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Laokoon

oder

Über die Grenzen der Malerei und Poesie.

Υλη και τροποις μιμησεως διαφερουσι.

Πλουτ. ποτ. Αθ. κατα Π. ή κατα Σ. ἐνδ'.

Mit beiläufigen Erläuterungen verschiedener Punkte der alten Kunstgeschichte.

1,,Sie unterscheiden sich in Gegenständen und Art ihrer Nachahmung.“ Die zitierte Schrift des Plutarch (etwa 50-120 n. Chr.) handelt davon, ob die Athener mehr den Wissenschaften oder den Waffen ihren Ruhm verdanken.

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Einleitung des Herausgebers.

13 die Heroenzeit des modernen Geistes erscheint uns das achtzehnte Jahrhundert. Kühner Jugendmut stürmt vorwärts, glaubt in frohem Selbstvertrauen alle Vorurteile schnell überwinden und auf geradem Wege zum Tempel der Gewißheit eingehen zu 5 können. Die ganze Fülle des Wissens der vergangenen Jahrhunderte bleibt lebendiges Gut dieser Generationen. Aber die ungeheuern Gesteinmassen, von den Vorgängern ohne Zweck angehäuft, sollen nun höheren Aufgaben dienstbar werden, indem ihnen eine neue Scheidekunst das verborgene Gold allgemeiner Erkenntnisse entlockt. Diese neue Kunst 10 heißt die Kritik. Ihr Organ ist der Verstand, die sondernde und ordnende Geisteskraft, geschult in einem Jahrtausend scholastischer Übung.

Die Poesie erschöpft sich in Fabeln, Lehrgedichten, wißigen Liedern und Epigrammen, nüchternen Lustspielen und dem kalten Prunk der Mexandrinertragödie. Die bildenden Künste kommen über kon15 pentionelle Anmut in Linie und Farbe, über geschwächte Nachahmung früherer Muster nicht hinaus. Auch hier, wie in der Religion, sind die Instinkte verkümmert. Kein sicheres Gefühl der Beziehung von Stoff und Form leitet Dichter und Bildner; ratlos klammern sie sich an den Gebrauch der Mten und lassen, wo dieser die Hilfe versagt, 20 der höchsten Instanz des Zeitalters, der wissenschaftlichen Kritik, die Entscheidung. Diese sucht der unwillkommenen Aufgabe zu genügen. Sie weiß, daß dem Verstand in dem autonomen Gebiete der Kunst die Rechtsprechung versagt ist, und sie versucht deshalb, um auf ihre alleinseligmachenden Methoden nicht verzichten zu müssen, innerhalb ihrer 25 Gerichtsbarkeit eine neue Instanz aufzurichten, das Gebiet des „unteren Erkenntnisvermögens“, dem sie das Kunstschaffen und Kunstdenken zuweist. So entsteht die neue Wissenschaft der Ästhetik, begründet von Baumgarten und Meier, bereichert von Sulzer und am meisten von Moses Mendelssohn, der seit 1755 Lessing in dieses Feld 30 hineinführte. Gemeinsam suchten die Freunde in der Schrift „Pope

ein Metaphysiker!" (1755) zwischen Dichtung und Philosophie neue Grenzsteine aufzurichten1.

Mendelssohn kommt es darauf an, die Quellen und das Wesen des ästhetischen Erlebens richtiger zu bestimmen als die Vorgänger, und er erhebt sich über sie an der Hand der Dubos, Locke, 5 Shaftesbury und Burke, unterstüßt von einem angeborenen und bei dem Mangel klassischer Jugendbildung weniger befangenen Geschmack. Auch ihm ist die Ästhetik noch ein Nebenzweig des logischen Denkens. Ihre Definitionen und Lehrsäße müssen so allgemein sein, daß sie sich ohne Zwang auf jede besondere Kunst anwenden lassen, und er tadelt 10 an Baumgarten, daß er alle seine Beispiele nur aus der Poesie und Beredsamkeit entlehne. Deshalb ist seine Aufmerksamkeit andauernd auch den bildenden Künsten zugewendet. In der Einteilung der Künste geht er von dem Prinzip Baumgartens und Meiers aus, das die Verschiedenheit der von den einzelnen Künsten angewandten Zeichen 15 zugrunde legt. Diese Zeichen sind entweder natürlich oder willkürlich, je nachdem sie dem Gegenstande selbst, seinem inneren Wesen nach, verbunden oder ihm nur nachträglich beigelegt sind. Mendelssohn entwickelt seine Ansichten darüber in den Anmerkungen zu Lessings Laokoon-Entwurf 2. Wenn er auch der Dichtung das ganze Gebiet des Dar- 20 stellbaren offen läßt, so unterscheidet er doch schon zwischen Stoffen, die mehr für die Malerei, und solchen, die mehr für die Poesie geeignet sind. Die Ergebnisse von Mendelssohns Nachdenken über das Verhältnis der Poesie und der (die bildenden Künste als Gattungsbegriff bezeichnenden) Malerei reihen sich den zahlreichen früheren Aufstel- 25 lungen an, die der eingewurzelten Unklarheit über Stoffe und Mittel der verschiedenen Kunstgattungen entgegentraten. Denn schon im Altertum begann mit dem Paradoxon des Simonides und dem Horazischen,,Ut pictura poësis" die Verwirrung; und seit der Renaissance war jedes Gefühl der Unterschiede beider geschwunden. Die Folge so dieser Gleichseßung war ein völlig verwirrtes Urteil bei den Kritikern, eine große Unsicherheit in der Wahl der Gegenstände und ihrer Behandlung bei den Künstlern. Joseph Spence sagte in seinem „Polymetis", fein Ding könne in einer poetischen Beschreibung gut sein, das, wenn man es in einer Statue oder in einem Gemälde darstellte, 35

A Vgl. Bb. 3 dieser Ausgabe, S. 295 ff. 2 Vgl. S. 224 dieses Bandes, Nr. 3.

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