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Gehör ist, mag er doch für das Gesicht sein, was er will. Wer hier ein schönes Bild verlangt, auf den hat der Dichter seinen ganzen Eindruck verfehlt.

Nichts nötiget hiernächst den Dichter, sein Gemälde in einen 5 einzigen Augenblick zu konzentrieren. Er nimmt jede seiner Handlungen, wenn er will, bei ihrem Ursprunge auf und führet sie durch alle mögliche Abänderungen bis zu ihrer Endschaft. Jede dieser Abänderungen, die dem Künstler ein ganzes, besonderes Stück kosten würde, kostet ihm einen einzigen Zug; 10 und würde dieser Zug, für sich betrachtet, die Einbildung des Zuhörers beleidigen, so war er entweder durch das Vorhergehende so vorbereitet oder wird durch das Folgende so gemildert und vergütet1, daß er seinen einzeln Eindruck verlieret und in der Verbindung die trefflichste Wirkung von der Welt 15 tut. Wäre es also auch wirklich einem Manne unanständig, in der Heftigkeit des Schmerzes zu schreien: was kann diese fleine überhingehende Unanständigkeit demjenigen bei uns für Nachteil bringen, dessen andere Tugenden uns schon für ihn eingenommen haben? Virgils Laokoon schreiet, aber dieser 20 schreiende Laokoon ist eben derjenige, den wir bereits als den vorsichtigsten Patrioten, als den wärmsten Vater kennen und lieben. Wir beziehen sein Schreien nicht auf seinen Charakter, sondern lediglich auf sein unerträgliches Leiden. Dieses allein hören wir in seinem Schreien; und der Dichter konnte es uns 25 durch dieses Schreien allein sinnlich machen.

Wer tadelt ihn also noch? Wer muß nicht vielmehr bekennen: wenn der Künstler wohl tat, daß er den Laokoon nicht schreien ließ, so tat der Dichter ebenso wohl, daß er ihn schreien ließ?

Aber Virgil ist hier bloß ein erzählender Dichter. Wird in 30 seiner Rechtfertigung auch der dramatische Dichter mit begriffen sein? Einen andern Eindruck macht die Erzählung von jemands Geschrei, einen andern dieses Geschrei selbst. Das Drama, welches für die lebendige Malerei des Schauspielers bestimmt ist, dürfte vielleicht eben deswegen sich an die Geseße der mate35 riellen2 Malerei strenger halten müssen. In ihm glauben wir

1 Ausgeglichen. 2 In totem Material arbeitend.

nicht bloß einen schreienden Philoktet zu sehen und zu hören; wir hören und sehen wirklich schreien. Je näher der Schauspieler der Natur kömmt, desto empfindlicher müssen unsere Augen und Ohren beleidiget werden; denn es ist unwidersprechlich, daß sie es in der Natur werden, wenn wir so laute und heftige 5 Äußerungen des Schmerzes vernehmen. Zudem ist der körperliche Schmerz überhaupt des Mitleidens1 nicht fähig, welches andere Übel erwecken. Unsere Einbildung kann zu wenig in ihm unterscheiden, als daß die bloße Erblickung desselben etwas von einem gleichmäßigen2 Gefühl in uns hervorzubringen ver- 10 möchte. Sophofles könnte daher leicht nicht einen bloß willkürlichen, sondern in dem Wesen unsrer Empfindungen selbst gegründeten Anstand übertreten haben, wenn er den Philoktet und Herkules so winseln und weinen, so schreien und brüllen läßt. Die Umstehenden können unmöglich so viel Anteil an 15 ihrem Leiden nehmen, als diese ungemäßigten Ausbrüche zu erfordern scheinen. Sie werden uns Zuschauern vergleichungsweise kalt vorkommen, und dennoch können wir ihr Mitleiden nicht wohl anders als wie das Maß des unsrigen betrachten. Hierzu füge man, daß der Schauspieler die Vorstellung des kör- 20 perlichen Schmerzes schwerlich oder gar nicht bis zur Illusion treiben kann: und wer weiß, ob die neuern dramatischen Dichter nicht eher zu loben als zu tadeln sind, daß sie diese Klippe entweder ganz und gar vermieden oder doch nur mit einem leichten Kahne umfahren haben.

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Wie manches würde in der Theorie unwidersprechlich scheinen, wenn es dem Genie nicht gelungen wäre, das Widerspiel durch die Tat zu erweisen. Alle diese Betrachtungen sind nicht ungegründet, und doch bleibet Philoktet" eines von den Meisterstücken der Bühne. Denn ein Teil derselben trifft den 30 Sophokles nicht eigentlich, und nur indem er sich über den andern Teil hinwegsehet, hat er Schönheiten erreicht, von welchen dem furchtsamen Kunstrichter ohne dieses Beispiel nie träumen würde. Folgende Anmerkungen werden es näher zeigen.

1 Der Erweckung des Mitleidens. 2 Gleichgearteten. vgl. Abschnitt I (S. 21 dieses Bandes, 3. 23 ff.)

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1) Wie wunderbar hat der Dichter die Idee des förperlichen Schmerzes zu verstärken und zu erweitern gewußt! Er wählte eine Wunde denn auch die Umstände der Geschichte kann man betrachten, als ob sie von seiner Wahl abgehangen 5 hätten, insofern er nämlich die ganze Geschichte ebendieser ihm vorteilhaften Umstände wegen wählte — er wählte, sage ich, eine Wunde und nicht eine innerliche Krankheit, weil sich von jener eine lebhaftere Vorstellung machen läßt als von dieser, wenn sie auch noch so schmerzlich ist. Die innere sym10 pathetische Glut, welche den Meleager verzehrte, als ihn seine Mutter in dem fatalen1 Brande ihrer schwesterlichen Wut aufopferte2, würde daher weniger theatralisch sein als eine Wunde. Und diese Wunde war ein göttliches Strafgericht. Ein mehr als natürliches Gift tobte unaufhörlich darin, und nur ein stär15 kerer Anfall von Schmerzen hatte seine gesezte Zeit, nach welchem jedesmal der Unglückliche in einen betäubenden Schlaf verfiel, in welchem sich seine erschöpfte Natur erholen mußte, den nämlichen Weg des Leidens wieder antreten zu können. Chateaubrun3 läßt ihn bloß von dem vergifteten Pfeile eines 20 Trojaners verwundet sein. Was kann man sich von einem so gewöhnlichen Zufalle Außerordentliches versprechen? Ihm war in den alten Kriegen ein jeder ausgesezt; wie kam es, daß er nur bei dem Philoktet so schreckliche Folgen hatte? Ein natürliches Gift, das neun ganzer Jahre wirket, ohne zu töten, ist 25 noch dazu weit unwahrscheinlicher als alle das fabelhafte Wunderbare, womit es der Grieche ausgerüstet hat.

2) So groß und schrecklich er aber auch die körperlichen Schmerzen feines Helden machte, so fühlte er es doch sehr wohl, daß sie allein nicht hinreichend wären, einen merklichen Grad 30 des Mitleids zu erregen. Er verband sie daher mit andern Übeln, die, gleichfalls für sich betrachtet, nicht besonders rühren konnten, die aber durch diese Verbindung einen ebenso melancholischen

1 Verhängnisvollen. 2 Meleager sollte nach dem Ausspruch der Parzen so lange leben, bis ein bestimmter Holzscheit verbrannt wäre. Als Meleager den kalydonischen Eber erlegt hatte, geriet er mit den Brüdern seiner Mutter in Streit und tötete fie, worauf die Mutter im Zorn den Scheit ins Feuer warf. Sofort wurde Meleager von einem gleichzeitig in seinem Innern ausbrechenden („fympathetischen") Brande verzehrt. 3 Vgl. S. 45 dieses Bandes, Anm. 4.

Anstrich erhielten, als sie den körperlichen Schmerzen hinwiederum mitteilten. Diese Übel waren völlige Beraubung der menschlichen Gesellschaft, Hunger und alle Unbequemlichkeiten des Lebens, welchen man unter einem rauhen Himmel in jener Beraubung ausgeseßet ist*. Man denke sich einen 5 Menschen in diesen Umständen, man gebe ihm aber Gesundheit und Kräfte und Industrie, und es ist ein Robinson Crusoe, der auf unser Mitleid wenig Anspruch macht, ob uns gleich sein

* Wenn der Chor das Elend des Philoktet in dieser Verbindung betrachtet, so scheinet ihn die Hülflose Einsamkeit desselben ganz besonders zu rühren. 10 In jedem Worte hören wir den geselligen Griechen. Über eine von den hieher gehörigen Stellen habe ich indes meinen Zweifel. Sie ist die (v. 701–705.): Ιν' αὐτος ἦν προσουρος, οὐκ ἔχων βασιν,

Οὐδε τιν ἐγχωρων,

Κακογειτονα παρ ̓ ᾧ στονον ἀντιτυπον
Βαρυβρωτ ̓ ἀποκλαυ-

σειεν αἱματηρον.

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Die gemeine Winshemsche Überseßung gibt dieses so:

Ventis expositus et pedibus captus

Nullum cohabitatorem

Nec vicinum ullum saltem malum habens, apud quem gemitum mutuum Gravemque ac cruentum

Ederet.

Hiervon weicht die interpolierte Übersetzung des Th. Johnson4 nur in den
Worten ab:

Ubi ipse ventis erat expositus, firmum gradum non habens
Nec quenquam indigenarum

Nec malum vicinum, apud quem ploraret

Vehementer edacem

Sanguineum morbum, mutuo gemitu.

Man sollte glauben, er habe diese veränderten Worte aus der gebundenen Überseßung des Thomas Naogeorgus 5 entlehnet. Denn dieser (sein Werk ist

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1,Hier war er einsam, konnte nicht stehen, keiner war ihm nahe, dem er das Leid der fressenden, blutigen, tränenentlockenden Wunde hätte klagen können.“ 2 Allgemein gebräuchliche. 3 Veit Winshem oder Winsheim (eigentlich Örtel; 1501-78) war Schüler Melanchthons und Lehrer der griechischen Sprache in Wittenberg. Seine Sophokles-Übersehung erschien in Frankfurt a. M. 1549. 4 Thomas Johnson (gest. 1740) gab seine lateinische Sophokles - Überseşung in Drford 1705 heraus. 5 Thomas Naogeorg (Kirchmeyer; 1511—63). Seine lateinischen Übersegungen des „Ajax" und „Philoctetes" erschienen zusammen mit dem von ihm verfaßten Drama „Judas Iscariotes" in Stuttgart 1552.

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Schicksal sonst gar nicht gleichgültig ist. Denn wir sind selten mit der menschlichen Gesellschaft so zufrieden, daß uns die Ruhe, die wir außer derselben genießen, nicht sehr reizend dünken sollte, besonders unter der Vorstellung, welche jedes Indivi5 duum schmeichelt, daß es fremden Beistandes nach und nach kann entbehren lernen. Auf der andern Seite gebe man einem Menschen die schmerzlichste unheilbarste Krankheit, aber man denke ihn zugleich von gefälligen Freunden umgeben, die ihn sehr selten, und Fabricius1 selbst hat es nur aus dem Oporinschen Bücher10 verzeichnisse 2 gekannt) drückt sich so aus:

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· ubi expositus fuit

Ventis ipse, gradum firmum haud habens
Nec quenquam indigenam nec vel malum
Vicinum, ploraret apud quem

Vehementer edacem atque cruentum

Morbum mutuo.

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Wenn diese Überseßungen ihre Richtigkeit haben, so sagt der Chor das Stärkste, was man nur immer zum Lobe der menschlichen Gesellschaft sagen kann: Der Elende hat keinen Menschen um sich; er weiß von keinem freundlichen Nach20 bar; zu glücklich, wenn er auch nur einen bösen Nachbar hätte! Thomson s würde sodann diese Stelle vielleicht vor Augen gehabt haben, wenn er den gleichfalls in eine wüste Jnsel von Bösewichtern ausgeseßten Melisander sagen läßt: Cast on the wildest of the Cyclad Isles

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Where never human foot had marked the shore
These ruffians left me yet believe me, Arcas,
Such is the rooted love we bear mankind,
All ruffians as they were, I never heard

A sound so dismal as their parting oars1.

Auch ihm wäre die Gesellschaft von Bösewichtern lieber gewesen als gar keine. 30 Ein großer, vortrefflicher Sinn! Wenn es nur gewiß wäre, daß Sophokles auch wirklich so etwas gesagt hätte. Aber ich muß ungern bekennen, daß ich nichts dergleichen bei ihm finde; es wäre denn, daß ich lieber mit den Augen des alten Scholiasten als mit meinen eigenen sehen wollte, welcher die Worte des

1 Johann Albert Fabricius (1668-1736), Verfasser der „Bibliotheca graeca" (Hamburg 1705-18, 14 Bde.). 2 Das Verzeichnis der von dem Baseler Buchdruder Johannes Oporinus (1507-68) hergestellten Drucke, wiederholt gedruckt (zuerst 1569). 9 Jacob Thomson (1700—48), damals berühmter englischer Dichter. Die angeführten Verse stammen aus seinem Trauerspiel „Agamemnon". 4,Ausgesezt auf der wildesten der Zykladen, deren Strand nie ein menschlicher Fuß betreten hatte, verließen mich diese Räuber doch glaube mir, Arkas; so stark ist die eingepflanzte Liebe zu den Menschen: troßdem fie Räuber waren, vernahm ich niemals einen so schrecklichen Ton als von ihren abfahrenden Rudern.“

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