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Aus meiner Erklärung von dem Ursprunge der ägyptischen Kunst läßt sich auch noch erklären, warum die ältesten ägyptischen Figuren mit dem Rücken an einer Säule anliegen. Es war der Gebrauch der Ägyptier, die nach der Figur des Leichnams 5 gearbeiteten Särge an die Mauer zu lehnen: und das erste hölzerne oder steinerne Bild war nichts als die grobe Nachahmung eines solchen Sarges.

Was vor dem Dädalus also in Ägypten nichts als ein religiöser Gebrauch war, ein bloßes Hülfsmittel des Gedächtnis, 10 erhob Dädalus zur Kunst, indem er die Nachahmungen toter Körper zu Nachahmungen lebendiger Körper machte; und daher alle das Fabelhafte, was man von seinen Werken erdichtete.

Doch die ägyptischen Künstler selbst müssen diesen Schritt des Dädalus bald nachgetan haben. Denn nach dem Diodorus 15 (lib. I.) ist Dädalus selbst in Ägypten gewesen und hat sich auch da durch seine Kunst einen unsterblichen Ruhm erworben. „Parallel dicht zusammenstehende Füße, wie sie einige alte Skribenten anzudeuten scheinen", sagt Herr Winckelmann, „hat keine einzige übriggebliebene ägyptische Figur" (S. 39). Ich 20 möchte das Vorgeben dieser alten Skribenten, welches zu einmütig und zu ausdrücklich ist, nicht verdächtig machen. Man darf nur erwägen, daß die ältesten Werke der Skulptur besonders bei den Ägyptiern sowohl als Griechen von Holz waren (Pausanias1 Corinth. cap. XIX. p. 152. Edit. Kuh.2), 25 so fällt die Verwunderung größtenteils weg, daß sich keins davon erhalten. Genug, daß wir den parallelen Stand der Füße auf andern Werken der alten ägyptischen Kunst, als auf der Tabula Isiaca, noch erblicken.

Die Ägyptier blieben bei den ersten Verbesserungen des 30 Dädalus stehen, die Griechen erhoben sie weiter bis zur Vollkommenheit.

1 Vgl. S. 29 dieses Bandes, Anm. 4. 2 Vgl. S. 26 dieses Bandes, Anm. 6. 3 Wie z. B. 4 Eine kupferne Tafel mit eingelegten Figuren im Turiner Museum.

23.

Die Malerei, sagt man, bedienet sich natürlicher Zeichen. Dieses ist, überhaupt zu reden1, wahr. Nur muß man sich nicht vorstellen, daß sie sich gar keiner willkürlichen Zeichen bediene; wovon an einem andern Orte.

Und hiernächst lasse man sich belehren, daß selbst ihre natürlichen Zeichen unter gewissen Umständen es völlig zu sein aufhören können.

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Ich meine nämlich so: unter diesen natürlichen Zeichen sind die vornehmsten Linien und aus diesen zusammengesekte 10 Figuren. Nun ist es aber nicht genug, daß diese Linien unter sich eben das Verhältnis haben, welches sie in der Natur haben; eine jede derselben muß auch die nämliche und nicht bloß verjüngte Dimension haben, die sie in der Natur hat oder in demjenigen Gesichtspunkte haben würde, aus welchem das Ge- 15 mälde betrachtet werden soll.

Derjenige Maler also, welcher sich vollkommen natürlicher Zeichen bedienen will, muß in Lebensgröße oder wenigstens nicht merklich unter Lebensgröße malen. Derjenige, welcher zu weit unter diesem Maße bleibt, der Verfertiger kleiner Kabi- 20 nettstücken, der Miniaturmaler, kann zwar im Grunde ebenderselbe große Künstler sein; nur muß er nicht verlangen, daß seine Werke eben die Wahrheit haben, eben die Wirkung tun sollen, welche jene Werke haben und tun.

Eine menschliche Figur von einer Spanne, von einem Zolle, 25 ist zwar das Bild eines Menschen; aber es ist doch schon gewissermaßen ein symbolisches Bild; ich bin mir der Zeichen dabei bewußter als der bezeichneten Sache; ich muß die verjüngte Figur in meiner Einbildungskraft erst wieder zu ihrer wahren Größe erheben, und diese Verrichtung meiner Seele, sie mag 30 noch so geschwind, noch so leicht sein, verhindert doch immer, daß die Intuition des Bezeichneten nicht zugleich mit der Intuition des Zeichens erfolgen kann.

Man dürfte vielleicht einwenden: „Die Dimensionen der sichtbaren Dinge, sofern sie gesehen werden, sind wandelbar; 35 sie hängen von der Entfernung ab, und es gibt Entfernungen, in welchen eine menschliche Figur nur eine Spanne, einen Zoll groß zu sein scheinet; welchem nach man auch nur anzunehmen braucht, daß diese verjüngte Figur aus dieser Entfernung ge5 nommen, um die Zeichen für vollkommen natürlich gelten zu lassen."

1 Im allgemeinen. 2 Anschauliche Erkenntnis.

Mein ich antworte: in der Entfernung, in welcher eine menschliche Figur nur von der Größe einer Spanne oder eines Zolles zu sein scheinet, erscheinet sie auch undeutlicher; das ist 10 aber bei den verjüngten Figuren in dem Vorgrunde kleiner Gemälde nicht, und die Deutlichkeit ihrer Teile widerspricht der annehmlichen Entfernung und erinnert uns zu lebhaft, daß die Figuren verjüngt und nicht entfernt sind.

Es ist hiernächst bekannt, wieviel die Größe der Dimen15 sionen zu dem Erhabnen beiträgt. Dieses Erhabene verliert sich durch die Verjüngung in der Malerei gänzlich. Ihre größten Türme, ihre schroffesten, rauhesten Abstürze, ihre noch so überhangende Felsen werden auch nicht einen Schatten von dem Schrecken und dem Schwindel erregen, den sie in der Natur 20 erregen, und den sie auch in der Poesie in einem ziemlichen Grade erregen können.

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Welch ein Gemälde beim Shakespeare, wo Edgar den Gloster auf die äußerste Spike des Hügels führt, von welcher er sich herabstürzen will*!

Come on, Sir,

Here's the place; stand still. How fearful

And dizzy 'tis to cast ones eyes so low!

The crows and choughs, that wing the midway air,
Shew scarce so gross as beetles. Half way down
Hangs one that gathers samphire; dreadful trade!
Methinks he seems no bigger than his head.
The fisher-men that walk upon the beach
Appear like mice; and yond tall anchoring bark
Diminish'd to her cock; her cock, a buoy
Almost too small for sight. The murmuring surge,
That on the unnumbred idle pebbles chafes

*,,King Lear", Act. IV, Sc. 5.

Cannot be heard so high. I'll look no more,
Lest my brain turn, and the deficient sight
Topple down headlong1

Mit dieser Stelle des Shakespeare zu vergleichen die Stelle beim Milton, Book VII, v. 210.2 wo der Sohn Gottes in 5 das grundlose Chaos herabsieht. Diese Tiefe ist bei weitem die größere; gleichwohl tut die Beschreibung derselben keine Wirkung, weil sie uns durch nichts anschauend gemacht wird; welches bei dem Shakespeare so vortrefflich durch die allmähliche Ver

fleinerung der Gegenstände geschieht.

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24.

Die verjüngten Dimensionen schwächen die Wirkung in der Malerei.

Ein schönes Bild in Miniatur kann unmöglich ebendasselbe Wohlgefallen erwecken, welches dieses Bild in seiner wahren 15 Größe erwecken würde.

Wo die Dimensionen aber nicht beibehalten werden können,

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„Kommt, Herr! Hier ist der Ort, hier stehet still.
Wie grauenvoll, wie schwindelweckend ist's,
Wenn man den Blick in solche Tiefe wirst.
Die Kräh'n und Dohlen, in der Mitte flatternd,
Sehn kaum wie Käfer aus. Halbwegs hinab
Hängt einer an der Wand, der Fenchel pflückt.
Ein grausig Handwerk! Er erscheint so groß
Wie sonst sein Kopf; wie Mäuse sind die Fischer,
Die am Gestade hin und wieder gehn.
Das hohe Schiff, das dort vor Anker liegt,
Verkleinert sich zum Boot, sein Boot zur Mulde,
Kaum wahrnehmbar. Der dumpfe Wogenschlag,
Der murmelnd mit unzähligen Kieseln spielt,
Erreicht in solcher Höhe nicht das Ohr.
Ich will nicht mehr hinuntersehn, sonst kommt
Mein Hirn ins Drehn, es tanzt mir vor den Augen,
Und taumelnd stürz' ich köpflings in die Tiefe."

2 Die Milton-Stelle sei zum Vergleich hier angeführt:
Auf Himmelsgrunde haltend, schauten sie
Vom Rand den unermeßlich weiten Abgrund,
Grenzlos, gleich einem Meer, wüst, wild und finster,
Vom Boden aufgewühlt durch wütige Winde
Und schwellende Wogen, berghoch zu bestürmen
Des Himmels Höh', zu mischen Pol und Zentrum.

so will der Betrachter sie wenigstens aus der Vergleichung mit gewissen bekannten und bestimmten Größen schließen und beurteilen können.

Die bekannteste und bestimmteste Größe ist die menschliche 5 Gestalt. Daher sind auch fast alle Längenmaße von der menschlichen Gestalt oder einzeln Teilen derselben hergenommen worden. Eine Elle 1, ein Fuß, eine Klaster2, ein Schritt, ein Zoll3, mannshoch 2c.

Sonach glaube ich, daß die menschlichen Figuren dem 10 Landschaftmaler, auch außer dem höhern Leben, das sie in sein Stück bringen, noch den wichtigen Dienst leisten, daß sie das Maß aller übrigen Gegenstände und ihrer Entfernungen untereinander darin werden.

Läßt er sie weg, so muß er diesen Mangel eines gewissen 15 Maßes durch Anbringung anderer Dinge ersehen, welche der Mensch zu seinem Gebrauche oder Bequemlichkeit gemacht und daher nach seiner Größe eingerichtet hat. Ein Haus, eine Hütte, ein Zaun, eine Brücke, ein Steig können diesen Dienst verrichten 2c.

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Und will der Künstler eine ganze unbebaute, wüste, verlassene Gegend, ohne alle Menschen und menschliche Spuren schildern, so muß er wenigstens Tiere von bekannter Größe hineinsehen, aus deren Verhältnisse zu den übrigen Gegenständen man auf ihre eigentliche Dimensionen schließen kann.

Der Mangel eines bestimmten und bekannten Maßes kann auch in historischen und nicht bloß in Landschaftstücken von übler Wirkung sein. „Die dichterische Erfindung", sagt der Herr von Hagedorn*, sobald sie der bloßen Einbildungskraft überlassen ist, leidet Zwerge und Riesen beisammen, aber die malerische Er30 findung oder die Verteilung ist nicht so gutwillig und biegsam." Er erläutert seine Meinung durch ein berühmtes Gemälde des

* „Von der Malerei", S. 169.

2 Ur=

1 In der ursprünglichen Bedeutung der Unterarm (vgl. Ellbogen). sprünglich die Breite der ausgespannten Arme. 3 Zoll ist nicht von einem Körpermaß hergenommen, wahrscheinlich identisch mit dem mittelhochdeutschen zol, Kloz. 4 Vgl. S. 63 dieses Bandes, Anm. 3.

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