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So wird auch beim Homer der geschleiste Hektor durch das von Blut und Staub entstellte Gesicht und zusammenverklebte Haar,

Squallentem barbam et concretos sanguine crines1

(wie es Virgil ausdrückt*), ein ekler Gegenstand, aber eben da- 5 durch um soviel schrecklicher, um soviel rührender. Wer kann die Strafe des Marsyas, beim Ovid, sich ohne Empfindung des Ekels denken**?

Clamanti cutis est summos derepta per artus:

Nec quidquam nisi vulnus erat: cruor undique manat: 10
Detectique patent nervi: trepidaeque sine ulla
Pelle micant venae: salientia viscera possis,
Et perlucentes numerare in pectore fibras2.

Aber wer empfindet auch nicht, daß das Ekelhafte hier an seiner
Stelle ist? Es macht das Schreckliche gräßlich; und das Gräß- 15
liche ist selbst in der Natur, wenn unser Mitleid dabei interessieret
wird, nicht ganz unangenehm; wie viel weniger in der Nach-
ahmung? Ich will die Exempel nicht häufen. Doch dieses
muß ich noch anmerken, daß es eine Art von Schrecklichem gibt,
zu dem der Weg dem Dichter fast einzig und allein durch das 20
Ekelhafte offen stehet. Es ist das Schreckliche des Hungers.
Selbst im gemeinen Leben drucken wir die äußerste Hungers-
not nicht anders als durch die Erzählungen aller der unnahr-
haften, ungesunden und besonders ekeln Dinge aus, mit welchen
der Magen befriediget werden müssen. Da die Nachahmung 25
nichts von dem Gefühle des Hungers selbst in uns erregen kann,

* Aeneid. lib. II. v. 277.

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** Metamorph. VI. v. 387.

Odyss. Sonst alles öde? Nichts verbirgt der hohle Raum?
Neopt. Ein Trinkgeschirr aus Holze, von kunstloser Hand
Gefertigt, hier auch noch Gerät zur Feuerung.
Odyss. Sein ist der Hausrat, den du da bezeichnet hast.
Neopt. Weh', weh'! Noch andres seh' ich: Lumpen, angefüllt
Mit eklem Eiter, trocknend dort am Sonnenstrahl."
„Schmutzig verworren der Bart, sein Haupthaar klebend vom Blute."
„Während er schrie, zog jener die Haut ihm über die Glieder:
Nichts als Wunde ist da, und das Blut strömt über und über;
Offen und bloß sind die Nerven zu sehn, die zuckenden Abern
Schlagen, der Hülle beraubt; ja, und die wallend bewegten Gedärme
Konnte man zählen sogar und der Brust durchscheinende Fibern."

so nimmt sie zu einem andern unangenehmen Gefühle ihre Zuflucht, welches wir im Falle des empfindlichsten Hungers für das kleinere Übel erkennen. Dieses sucht sie zu erregen, um uns aus der Unlust desselben schließen zu lassen, wie stark jene s Unlust sein müsse, bei der wir die gegenwärtige gern aus der Acht schlagen würden. Ovid sagt von der Oreade, welche Ceres an den Hunger abschickte*:

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Hanc (famem) procul ut vidit -

refert mandata deae; paulumque morata,

Quanquam aberat longe, quanquam modo venerat illuc,
Visa tamen sensisse famem1

Eine unnatürliche Übertreibung! Der Anblick eines Hungrigen, und wenn es auch der Hunger selbst wäre, hat diese ansteckende Kraft nicht; Erbarmen und Greul und Ekel kann er empfinden 15 lassen, aber keinen Hunger. Diesen Greul hat Ovid in dem Gemälde der Fames nicht gesparet, und in dem Hunger des Eresichthons sind, sowohl bei ihm als bei dem Kallimachus**2, die ekelhaften Züge die stärksten. Nachdem Eresichthon alles aufgezehret und auch der Opferkuh nicht verschonet hatte, die 20 seine Mutter der Vesta ausfütterte, läßt ihn Kallimachus über Pferde und Kaken herfallen und auf den Straßen die Brocken und schmuzigen Überbleibsel von fremden Tischen betteln:

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Και ταν βων ἐφαγεν, ταν Ἑστιᾳ ἐτρεφε ρεφε ματηρ,
Και τον ἀεθλοφορον και τον πολεμηιον ἱππον,
Και ταν αἰλουρον, ταν έτρεμε θηρια μικρα
Και του ̓ ὁ τω βασιληος ἐνι τριοδοισι καθηστο
Αἰτιζων ἀκολως τε και ἐκβολα λυματα δαιτος 8

* Ibid., lib. VIII. v. 809. — ** Hym. in Cererem v. 109-116.

1 „Diesen (den Hunger) von fern erschauend,

Meldet sie ihm der Göttin Befehl, und nach kurzem Verweilen,
Ob auch ferne sie stand, ob auch kaum erst sie gekommen,

Fühlte sie sich wie von Hunger gequält"

Ceres sendet die Dreade an den Hunger, damit er Eresichthon für das Fällen der ihr ge= heiligten Bäume strafe. 2 Von dem Dichter und Grammatiker Kallimachos (etwa 310-238 v. Chr.) sind u. a. noch sechs Hymnen erhalten, darunter die auf die Ceres.

3 „Und er verzehrte die Kuh, die der Hestia pflegte die Mutter,
Sowie den Wettpreisrenner, zugleich mit dem krieg'rischen Rosse,
Selber die Kaze sogar, der kleinere Tiere gezittert.
Dann saß er, der Sprößling des Königs, nieber am Dreiweg,
Bettelnd um Brosamen und des Mahles verworfenen AbfaU."

Und Ovid läßt ihn zuleht die Zähne in seine eigene Glieder sehen, um seinen Leib mit seinem Leibe zu nähren.

Vis tamen illa mali postquam consumserat omnem
Materiam

Ipse suos artus lacero divellere morsu
Coepit; et infelix minuendo corpus alebat1.

Nur darum waren die häßlichen Harpyen so stinkend, so unflätig, daß der Hunger, welchen ihre Entführung der Speisen bewirken sollte, desto schrecklicher würde. Man höre die Klage des Phineus beim Apollonius*2:

Τυτθον δ ̓ ἦν ἀρα δη ποτ ̓ ἐδητυος ἀμμι λιπωσι,
Πνει τοδε μυδαλεον τε και οὐ τλητον μενος ὀδμης.
Οὐ κε τις οὐδε μινυνθα βροτων ἀνσχοιτο πελασσας,
Οὐδ ̓ εἱ οἱ ἀδαμαντος ἐληλαμενον κεαρ εἰη.
̓Αλλα με πικρη δητα κε δαιτος ἐπισχει ἀναγκη
Μιμνειν, και μιμνοντα κακῃ ἐν γαστερι θεσθαι 3.

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Ich möchte gern aus diesem Gesichtspunkte die ekele Einführung der Harpyen beim Virgil entschuldigen; aber es ist kein wirklicher gegenwärtiger Hunger, den sie verursachen, sondern nur ein instehender, den sie prophezeien; und noch dazu 20 löset sich die ganze Prophezeiung endlich in ein Wortspiel auf. Auch Dante bereitet uns nicht nur auf die Geschichte von der Verhungerung des Ugolino durch die ekelhasteste, gräßlichste Stellung, in die er ihn mit seinem ehemaligen Verfolger in der Hölle sehet; sondern auch die Verhungerung selbst ist nicht 25

* Argonaut. lib. II. v. 228-33.

1 „Aber nachdem die Gewalt des Unheils jeglichen Vorrat
Hatte verzehrt,

Fängt er selbst sein Gebein mit verstümmelndein Biß zu benagen
An und nährt unselig den Leib durch des Leibes Vermindrung."
2 Vgl. S. 113 dieses Bandes, Anm. 3.

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„Lassen sie mir auch etwa zurück ein wenig des Mahles,
Hauchet es scheußlichen Dunst und unausstehlichen Qualm aus.
Nicht ein Weilchen vermöcht' ein Sterblicher ihm sich zu nahen,
Nicht, wenn selbst ihm die Brust aus Demant wäre geschmiedet.
Doch mich dränget die bittere Not und Hunger nach Speise,
Auszuharren und so den verwünschten Magen zu füllen."

4 „Äneïs", 3. Gesang, V. 216 ff. - 5 Bevorstehender. - 6 In Dantes „Hölle", 32. Gesang, hält der im Hungerturm umgekommene Ugolino seinen Todfeind Ruggiero umklammert und nagt an dessen Hinterkopf. Nachher wird der Hungertod, den Ugolino mit den Söhnen erlitt geschildert.

ohne Züge des Ekels, der uns besonders da sehr merklich überfällt, wo sich die Söhne dem Vater zur Speise anbieten. In der Note will ich noch eine Stelle aus einem Schauspiele von Beaumont und Fletcher1 anführen, die statt aller andern Bei5 spiele hätte sein können, wenn ich sie nicht für ein wenig zu übertrieben erkennen müßte*.

* „The Sea-Voyage", Act. III. Sc. I. Ein französischer Seeräuber wird mit seinem Schiffe an eine wüste Insel verschlagen. Habsucht und_Neid_ent= zweien seine Leute und schaffen ein paar Elenden, welche auf dieser Insel 10 geraume Zeit der äußersten Not ausgesetzt gewesen, Gelegenheit, mit dem Schiffe in die See zu stechen. Alles Vorrates von Lebensmitteln sonach auf einmal beraubet, sehen jene Nichtswürdige gar bald den schmählichsten Tod vor Augen, und einer drückt gegen den andern seinen Hunger und seine Ver= zweiflung folgendergestalt aus:

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LAMURE. Oh, what a tempest have I my stomach!
How my empty guts cry out! My wounds ake,
Would they would bleed again, that I migth get
Something to quench my thirst.

FRANVILLE. O Lamure, the happinefs my dogs had
When I kept house at home! they had a storehouse,
A storehouse of most blessed bones and crusts,

Happy crusts. Oh, how sharp hunger pinches me!
LAMURE. How now, what news?
MORILLAT. Hast any meat yet?
FRANVILLE. Not a bit that I can see;

Here be goodly quarries, but they be cruel hard
To gnaw: I ha' got some mud, we'll eat it with spoons,
Very good thick mud; but it stincks damnably,
There's old rotten trunks of trees too,

But not a leaf nor blossom in all the island.

LAMURE. How it looks!

MORILLAT. It stincks too.

LAMURE. It may be poison.
FRANVILLE. Let it be any thing;

So I can get is down. Why man,
Poison's a princely dish.

MORILLAT. Hast thou no bisket?

No crumbs left in thy pocket? Here is my doublet,
Give me but three small crumbs.

FRANVILLE. Not for three kingdoms,

1 Francis Beaumont (1586-1615) und John Fletcher (1576-1625),

Zeitgenossen Shakespeares, die ihre Dramen gemeinsam verfaßten.

Ich komme auf die ekelhaften Gegenstände in der Malerei. Wenn es auch schon ganz unstreitig wäre, daß es eigentlich gar keine ekelhafte Gegenstände für das Gesicht gäbe, von welchen es sich von sich selbst verstünde, daß die Malerei als schöne Kunst ihrer entsagen würde, so müßte sie dennoch die ekelhaften Gegen- 5 stände überhaupt vermeiden, weil die Verbindung der Begriffe sie auch dem Gesichte ekel macht. Pordenone läßt in einem Gemälde von dem Begräbnisse Christi einen von den Anwesen

If I were master of 'em. Oh, Lamure,
But one poor joint of mutton, we ha' scorn'd, man.
LAMURE. Thou speak'st of paradise.
FRANVILLE. Or but the snuffs of those healths,

We have lewdly at midnight flang away.

MORILLAT. Ah! but to lick the glasses1.

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Doch alles dieses ist noch nichts gegen den folgenden Auftritt, wo der Schiffs- 15 chirurgus dazukömmt.

FRANVILLE. Here comes the Surgeon. What

Hast thou discover'd? Smile, smile and comfort us.

SURGEON. I am expiring,

Smile they that can. I can find nothing, gentlemen,
Here 's nothing can be meat, without a miracle.

Oh that I had my boxes and my lints now,

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My stupes, my tents, ant those sweet helps of nature,

What dainty dishes could I make of 'em.

MORILLAT. Hast ne'er an old suppository?

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SURGEON. Oh would I had, Sir.
LAMURE. Or but the paper where such a cordial

Potion, or pills hath been entomb'd.

FRANVILLE. Or the best bladder where a cooling-glister.
MORILLAT. Hast thou no searcloths left?

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Nor any old pultesses?

FRANVILLE. We care not to what it hath been ministred.
SURGEON. Sure I have none of these dainties, gentlemen.
FRANVILLE. Where's the great wen

Thou cut'st from Hugh the sailor's shoulder?
That would serve now for a most princely banquet.

SURGEON. Ay if we had it, gentlemen.
I flung it over-bord, slave that I was.
LAMURE. A most improvident villain1.

1 Vgl. die Übersetzung in den Anmerkungen am Schlusse dieses Bandes. 2 Bei Lessing übliche Konstruktion; vgl. Bd. 2 dieser Ausgabe, S. 102, 8. 21. 3 Giovanni Antonio da Pordenone (1483-1539), seit 1535 in Venedig tätig.

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