ebendaher den Ausdruck der Kunst zu Hülfe, deren Täuschung er so sehr erhebet, daß das ganze Lied mehr ein Lobgedicht auf die Kunst als auf sein Mädchen zu sein scheinet. Er sieht nicht das Bild, er sieht sie selbst und glaubt, daß es nun eben den 5 Mund zum Reden eröffnen werde: ̓Απεχει· βλεπω γαρ αὐτην. Auch in der Angabe des Bathylls ist die Anpreisung des schönen Knabens mit der Anpreisung der Kunst und des Künstlers so 10 ineinander geflochten, daß es zweifelhaft wird, wem zu Ehren Anakreon das Lied eigentlich bestimmt habe. Er sammelt die schönsten Teile aus verschiednen Gemälden, an welchen eben die vorzügliche Schönheit dieser Teile das Charakteristische war; den Hals nimmt er von einem Adonis, Brust und Hände von 15 einem Merkur, die Hüfte von einem Pollux, den Bauch von einem Bacchus; bis er den ganzen Bathyll in einem vollendeten Apollo des Künstlers erblickt. 20 25 Μετα δε προσωπον ἐστω, Καθελων, ποιει Βαθυλλον2. So weiß auch Lucian3 von der Schönheit der Panthea anders keinen Begriff zu machen als durch Verweisung auf die schön 1: 2 „Doch genug! Schon steht sie vor mir! 3 Der Grieche Lukianos, der im 2. Jahrhundert n. Chr. lebte, schrieb die „Bilder", in denen er unter anderem die Panthea aus Smyrna, eine Geliebte des Kaisers Lucius Verus, schilderte. sten weiblichen Bildsäulen alter Künstler*. Was heißt aber dieses sonst, als bekennen, daß die Sprache vor sich selbst hier ohne Kraft ist; daß die Poesie stammelt und die Beredsamkeit verstummet, wenn ihnen nicht die Kunst noch einigermaßen zur Dolmetscherin dienet? XXI. 5 Aber verliert die Poesie nicht zuviel, wenn man ihr alle Bilder körperlicher Schönheit nehmen will? Wer will ihr die nehmen? Wenn man ihr einen einzigen Weg zu verleiden sucht, auf welchem sie zu solchen Bildern zu gelangen gedenket, 10 indem sie die Fußtapfen einer verschwisterten Kunst aussucht, in denen sie ängstlich herumirret, ohne jemals mit ihr das gleiche Ziel zu erreichen: verschließt man ihr darum auch jeden andern Weg, wo die Kunst hinwiederum ihr nachsehen muß? Eben der Homer, welcher sich aller stückweisen Schilderung 15 körperlicher Schönheiten so geslissentlich enthält, von dem wir kaum einmal im Vorbeigehen erfahren, daß Helena weiße Arme ** und schönes Haar*** gehabt; eben der Dichter weiß demohngeachtet uns von ihrer Schönheit einen Begriff zu machen, der alles weit übersteiget, was die Kunst in dieser Absicht zu 20 leisten imstande ist. Man erinnere sich der Stelle, wo Helena in die Versammlung der Ältesten des trojanischen Volkes tritt. Die ehrwürdigen Greise sehen sie, und einer sprach zu den andernt: Οὐ νεμεσις, Τρωας και ἐϋκνημιδας Αχαιους Was kann eine lebhaftere Idee von Schönheit gewähren, als das kalte Mter sie des Krieges wohl wert erkennen lassen, der so viel Blut und so viele Tränen kostet? * Είκονες, § 3. T. II. p. 461. Edit. Reitz1. ** Iliad. Γ. v. 121. *** Ibid. v. 329. † Ibid. v. 156-158. 1743). 3 1 Johann Friedrich Reiz (1695-1778), „Luciani opera" (Amsterdam 2 Hinter ihr zurückbleiben. „Niemand tadle die Troer und hellumschienten Achaier, Daß sie um solch ein Weib so lang' ausharren im Elend! Einer unsterblichen Göttin fürwahr gleicht diese von Ansehn!" 25 30 Was Homer nicht nach seinen Bestandteilen beschreiben konnte, läßt er uns in seiner Wirkung erkennen. Malet uns, Dichter, das Wohlgefallen, die Zuneigung, die Liebe, das Entzücken, welches die Schönheit verursachet, und ihr habt die 5 Schönheit selbst gemalet. Wer kann sich den geliebten Gegenstand der Sappho, bei dessen Erblickung sie Sinne und Gedanken zu verlieren bekennet1, als häßlich denken? Wer glaubt nicht die schönste, vollkommenste Gestalt zu sehen, sobald er mit dem Gefühle sympathisieret, welches nur eine solche Gestalt er10 regen kann? Nicht weil uns Ovid den schönen Körper seiner Lesbia Teil vor Teil zeiget: 15 Quos humeros, quales vidi tetigique lacertos! Quantum et quale latus! quam juvenile femur3! sondern weil er es mit der wollüstigen Trunkenheit tut, nach der unsere Sehnsucht so leicht zu erwecken ist, glauben wir eben des Anblickes zu genießen, den er genoß. Ein andrer Weg, auf welchem die Poesie die Kunst in 20 Schilderung körperlicher Schönheit wiederum einholet, ist dieser, daß sie Schönheit in Reiz verwandelt. Reiz ist Schönheit in Bewegung und eben darum dem Maler weniger bequem als dem Dichter. Der Maler kann die Bewegung nur erraten lassen, in der Tat aber sind seine Figuren ohne Bewegung. Folglich einzigen Figur der Helena, die nackend dastand. Denn es ist wahrscheinlich, daß es eben die Helena war, welche er für die zu Crotona1 malte*. 1 In einem der Fragmente ihrer Lieder (,,Poetae lyrici" ed. Bergk No. 2). Die Stelle lautet: Meine Zunge erstarrt, ein leichtes Feuer Strömt mir durch den Körper, die Augen brechen, Vor den Ohren braust mir's, kalter Angstschweiß Decdet die Glieder, Zittern herrscht in allen Gebeinen, Blässe, Mehr als Lilienbläss', überzieht die Wangen, Wenig, wenig fehlet nur, so sink' ich Sterbend zu Boden. 2 Richtig Corinna. Lessing verwechselt sie mit der Geliebten Catulls. „Was für Schultern und was für Arme nun sah und berührt' ich! 3 Ovid, Man vergleiche hiermit, wundershalber, das Gemälde, welches Caylus dem neuern Künstler aus jenen Zeilen des 5 Homers vorzeichnet: „Helena, mit einem weißen Schleier bedeckt, erscheinet mitten unter verschiedenen alten Männern, in deren Zahl sich auch Priamus befindet, der an den Zeichen seiner königlichen Würde zu erkennen ist. Der Artist muß sich besonders angelegen sein lassen, uns den Triumph der Schön- 10 heit in den gierigen Blicken und in allen den Äußerungen einer staunenden Bewunderung auf den Gesichtern dieser kalten Greise empfinden zu lassen. Die Szene ist über einem von den Toren der Stadt. Die Vertiefung des Gemäldes kann sich in den freien Himmel oder gegen höhere Gebäude der Stadt 15 verlieren; jenes würde kühner lassen, eines aber ist so schicklich wie das andere." Man denke sich dieses Gemälde von dem größten Meister unserer Zeit ausgeführet und stelle es gegen das Werk des Zeuxis. Welches wird den wahren Triumph der Schönheit 20 zeigen? Dieses, wo ich ihn selbst fühle, oder jenes, wo ich ihn aus den Grimassen gerührter Graubärte schließen soll? „Turpe senilis amor5"; ein gieriger Blick macht das ehrwürdigste Gesicht lächerlich, und ein Greis, der jugendliche Begierden verrät, ist sogar ein ekler Gegenstand. Den Homerischen Greisen ist dieser 25 Vorwurf nicht zu machen; denn der Affekt, den sie empfinden, ist ein augenblicklicher Funke, den ihre Weisheit sogleich erstickt; nur bestimmt, der Helena Ehre zu machen, aber nicht, sie selbst zu schänden. Sie bekennen ihr Gefühl und fügen sogleich hinzu: ̓Αλλα και ὡς, τοιη περ ἐουσ ̓, ἐν νηυσι νεεσθω, * Val. Maximus 2 lib. III. cap. 7. Dionysius Halicarnass 3. Art. Rhet. cap. 12. περι λογων ἐξετασεως. 1 Die Einwohner von Kroton in Bruttium. 2 Vgl. S. 32 dieses Bandes, Anm. 2. 3 Vgl. S. 137 dieses Bandes, Anm. 3. - 4 Der Merkwürdigkeit halber. 5 Ovid, „Amores", 1. Buch, Nr. 9, Vers 4: „Schmachvoll ist Liebe der Greise." „Aber, wie reizend sie ist, doch schiffe sie wieder nach Hause, Che sie uns und den Kindern dereinst noch werde zum Unheil." 6 30 Ohne diesen Entschluß wären es alte Gede1, wären sie das, was sie in dem Gemälde des Caylus erscheinen. Und worauf richten sie denn da ihre gierigen Blicke? Auf eine vermummte, verschleierte Figur. Das ist Helena? Es ist mir unbegreiflich, wie 5 ihr Caylus hier den Schleier lassen können. Zwar Homer gibt ihr denselben ausdrücklich: Αὐτικα δ ̓ ἀργεννῃσι καλυψαμενη ὀθονῃσιν aber, um über die Straßen damit zu gehen; und wenn auch 10 schon bei ihm die Aten ihre Bewunderung zeigen, noch ehe sie den Schleier wieder abgenommen oder zurückgeworfen zu haben scheinet, so war es nicht das erstemal, daß sie die Aten sahen; ihr Bekenntnis durfte also nicht aus dem izigen augenblicklichen Anschauen entstehen, sondern sie konnten schon oft 15 empfunden haben, was sie zu empfinden bei dieser Gelegenheit nur zum erstenmal bekannten. In dem Gemälde findet so etwas nicht statt. Wenn ich hier entzückte Mte sehe, so will ich auch zugleich sehen, was sie in Entzückung seht; und ich werde äußerst betroffen, wenn ich weiter nichts als, wie gesagt, eine 20 vermummte, verschleierte Figur wahrnehme, die sie brünstig angaffen. Was hat dieses Ding von der Helena? Ihren weißen Schleier und etwas von ihrem proportionierten Umrisse, soweit Umriß unter Gewändern sichtbar werden kann. Doch vielleicht war es auch des Grafen Meinung nicht, daß ihr Gesicht 25 verdeckt sein sollte, und er nennet den Schleier bloß als ein Stück ihres Anzuges. Ist dieses (seine Worte sind einer solchen Auslegung zwar nicht wohl fähig: „Hélène couverte d'un voile blanc"), so entstehet eine andere Verwunderung bei mir: er empfiehlt dem Artisten so sorgfältig den Ausdruck auf den Ge30 sichtern der Aten; nur über die Schönheit in dem Gesichte der Helena verliert er kein Wort. Diese sittsame Schönheit, im Auge den feuchten Schimmer einer reuenden Träne, furchtsam sich nähernd - Wie? Ist die höchste Schönheit unsern Künstlern 1 Narren. 2 „Schnell, in den Schleier gehüllt von silberfarbener Leinwand 3 „Helena, bedeckt mit einem weißen Schleier." 4 Bereuenden. |