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Dichter, der Shakespeare in drei Jahrhunderten gefolgt ist, von ihm sagte, er fürchte an ihm zu Grunde zu gehen."

Auch Gervinius hebt wiederholt, namentlich noch in Beziehung auf das Drama Hamlet hervor, dass bei Shakespeare die Handlung immer das Abgeleitete, das Spätere, das Gewordene sei. Derselbe scheint hiernach einen bestimmten ideellen Vorwurf, ein vorher bestimmtes Allgemeines, welches in dem Besonderen zum Ausdruck kommt, anzunehmen. Dieses Allgemeine ist aber in dem tiefsinnigen Drama Hamlet nicht jene Seelenzeichnung, sowie dieselbe bisher aufgefasst worden.

Zu den näheren Untersuchungen, welche wir über den ideellen Vorwurf zunächst bei dem bedeutungsvollsten Drama Shakespeare's, Hamlet, hinsichtlich welches Dramas man immer eine Beziehung auf die Geistesthätigkeit des Dichters, eine pathologische Antheilnahme desselben, vorausgesetzt - angestellt haben, wurden wir durch die Wahrnehmung veranlasst, dass die einzelnen Theile der Dramen wohl auf einerlei Ziel gehen, dass dieselben unter sich, ihrem begrifflichen Inhalte und häufig selbst der Redegestaltung nach, aber wesentlich verschieden sind, während dagegen wiederum in jedem Abschnitte für sich das Aehnliche und Gleiche, begrifflich aufgefasst, bemerkbar ist. Die Annahme schien uns hiernach nahe zu liegen, dass der Dichter eine begriffliche Zergliederung des ideellen Vorwurfs vorgenommen, und durch den Begriff die Vergeistigung des Allgemeinen in dem Besonderen bewirkt, auch hiedurch die in seiner Dichtung so characteristische Objectivität und weise Selbstbeschränkung erlangt habe. Bei der grossen Productivität des Dichters mussten wir die Befolgung einer besonderen Methode seinerseits ebenso für wahrscheinlich halten, als dass er sich bei und unter seinem Schaffen einen Anhalt, in Beziehung auf die Idee, durch eine begriffliche Eintheilung gebildet habe. Bacon citirt (Nov. org. II. aph. 26), zur Andeutung der Wichtigkeit der Eintheilung, das Wort Platon's: wer wohl zu definiren und einzutheilen verstehe, sei göttlich zu achten, und sagt (serm. fid.) Ordnung, Eintheilung und verhältnissmässige Behandlung der Theile sei eigentlich die Seele der Schnelligkeit, nur dass die Eintheilung nicht gar zu weit getrieben werde.

Hinsichtlich des Resultats unserer Forschungen, befinden wir uns in der glücklichen Lage, im Allgemeinen in Uebereinstimmung zu sein:

mit Lessing, der ein Genügeleisten der höchsten Kunstforderungen des Aristoteles von Seiten Shakespeare's behauptete, mit Goethe, der den Begriff als Mittelpunkt in den Dramen erkannte und hierin das, die Shakespeare'sche Dichtung von aller andern Dichtung unterscheidende Moment fand, mit Hallam und andern Männern, insofern von denselben erkannt worden, dass der Dichter allen seinen Geschöpfen immanent ist,*)

mit Gervinus, insofern derselbe die Unabhängigkeit des geistigen. Vermögens von dem sinnlichen Vermögen als characteristisch für die Shakespeare'sche Geistesthätigkeit hervorhebt, und die Identification des Allgemeinen und Besonderen in den Dramen betont.

Auf diese Uebereinstimmung müssen wir umsomehr Werth legen, als wir unsere Untersuchungen unabhängig von den Ermittelungen dieser hervorragenden Männer angestellt haben; erst nachdem wir zu einem bestimmten Resultate gelangt, haben wir gefunden, dass dieses Resultat übereinstimmend ist mit sämmtlichen vorstehenden Ermittelungen, und dieselben gewissermaassen sämmtlich umfasst.

Einem Zusammentreffen zufälliger Umstände dürfen wir nur das erlangte glückliche Resultat zuschreiben, welches wir, wenn auch in Nebenumständen und in der Darstellung möglicherweise

*) Hallam sagt: »Of William Shakespeare, whom, through the mouths of those whom he has inspired to body forth the modifications of his immense mind, we seem to know better than any human writer, it may be truly said that we scarcely know anything. We see him, so far as we do see him, not in himself, but in a reflex image from the objectivity in which he is manifested: he is Falstaff, and Mercutio, and Malvolio, and Jacques, and Portia, and Imogen, and Lear, and Othello; but to us he is scarcely a determined person, a substantial reality of past time, the man Shakespeare. The name of Shakespeare is the greatest in our literature, it is the greatest in all literature. No man ever came near to him in the creative powers of the mind; no man had ever such strength at once, and such variety of imagination.« (Cfr. The plays and poems of W. Shakespeare. Colliers Edition VII. p. 513.)

mangelhaft, in der Hauptsache für vollkommen richtig halten, und dürfen wir nur das als unser Verdienst in Anspruch nehmen, dass wir uns, durch die gewöhnliche, alle Forschungen deprimirende Annahme, dass weil etwas in einem langen Zeitraume von hochbegabten Männern nicht ermittelt worden sei, überall nicht ermittelt werden könne, nicht haben abhalten lassen, selbstständige Untersuchungen anzustellen.

Hinsichtlich der Hauptursache, weshalb die Ermittlung der Grundlage der Shakespeare'schen Dichtung bisher nicht geschehen, und als Folge davon, das eigentliche Verständniss der schöpferischen Thätigkeit Shakespeare's, wie diese sich, in den sich gewissermaassen ergänzenden Werken, dem Drama Hamlet und dem Sonettencyklus, offenbart, auch nicht erlangt ist, beziehen wir uns auf die Schlussbemerkungen in dem folgenden Abschnitte ,,die philosophischen Systeme."

Es ist schon in einer vorstehenden Anmerkung angedeutet worden, dass hinsichtlich der Verwirklichung der Idee, des Allgemeinen in dem Besonderen, eine principielle Uebereinstimmung Shakespeare's mit Aristoteles vorhanden ist.

Nach Auffassung des Letzteren bewährt die Idee sich als ein Concretes, durch deren Wirksamkeit die Gegensätze der natürlichen und geistigen Welt zusammengehalten und zu einem in sich bestimmten, individuellen Dasein gestaltet werden, so dass weder der ewige Wechsel der Dinge, noch die ewig ruhende, von allem bewegten Dasein ausgeschiedene Idee die Wahrheit ist, sondern das Allgemeine, welches in dem Besonderen sich als die immanente Thätigkeit offenbart und als die übergreifende Einheit sich verwirklicht, *) und hat Shakespeare nicht nur diese Auffassung der Idee zu der seinigen gemacht (nach Ausweis der Sonette, vermittelst der Einbildungskraft, den denkenden Geist, in dem das Allgemeine und die Formbestimmung ist, an und für sich und unabhängig von der receptiven Seelenthätigkeit gedacht, und sich im Drama Hamlet, in welchem sinnbildlich der an und für sich seiende Geist agirend auftritt, verwirklicht) sondern sich auch

*) Biese, Philos. des Aristoteles I, S. 661.

den mit dieser Auffassung der Idee in nahem Zusammenhange stehenden Moralprincipien des Philosophen angeschlossen. Uebereinstimmend mit demselben bildet die Begriffsbestimmung den Mittelpunkt seiner Dichtung, und indem er den Begriff in seiner Identität des Seins und Wesens auffasst, überwindet er das Einseitige des reflectirenden Verstandes, der die Einheit im Gegensatze nicht aufzufassen vermag und gewinnt dadurch die Grundlage, von welcher aus er das Allgemeine in dem Besonderen ausspricht, jenes durch dieses individualisirt, und die von Goethe in den obigen Citaten angedeutete gnomische und gnostische Thätigkeit ausübt.

Man hat von der speculativ-empirischen Methode des Aristoteles gesagt, dass er sich durch dieselbe über alle Seiten des realen Universums verbreitet und den Reichthum und die äusserliche Zerstreuung derselben dem Begriff unterworfen habe, und durch das tiefere Eindringen in den ganzen Umfang des Wissens, der Lehrer des Menschengeschlechts geworden sei. Shakespeare hat sich der auf dem rein Menschlichen beruhenden Auffassung jenes Riesengeistes angeschlossen, nach derselben in genialer Weise und mit wahrhafter und vollendeter Wohlgenaturtheit (εvqvia) geschaffen und dasselbe Resultat erreicht, wie sich dies in dem ihm allseitig verliehenen Prädicate,,Lehrer der Menschheit" zeigt.

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Indem wir uns hier auf diese Bemerkungen beschränken und nur noch besonders hervorheben, dass man erst durch die Erkenntniss der vollendeten Idealität Shakespeare's und der Bedeutsamkeit des Begriffs der Negation durch welchen der Uebergang des Allgemeinen in das Besondere, des Ideellen in das Reale nach der Aristotelischen Theorie vermittelt wird in der Shakespeare'schen dramatischen Dichtung, zum vollen Verständniss derselben sowie der Sonette, namentlich der Klagen und des Moments der Hässlichkeit, wird gelangen können, dürfen wir im Uebrigen auf die nachfolgenden Zusammenstellungen und Ausführungen Bezug nehmen und müssen wir eine vorurtheilsfreie Prüfung, der vorliegenden kleinen combinatorischen Arbeit, von Seiten des denkenden Lesers wünschen.

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Der Wortlaut der Auszüge und Citate aus der Philosophie des Aristoteles ist der des Biese'schen Werks: „die Philosophie des Aristoteles, in ihrem inneren Zusammenhange," und der Uebersetzung und Erläuterung verschiedener Einzelschriften von A. Stahr, deren Benutzung resp. die G. Reimer'sche Verlagsbuchhandlung in Berlin, und die Carl Hoffmann'sche Verlagsbuchhandlung in Stuttgart, dem Verfasser in liberaler Weise gestattet hat. Die wenigen Citate in deutscher Sprache aus dem Drama Hamlet, theilen wir nach der Schlegel-Tieck'schen Uebersetzung (Verlag von G. Reimer, Berlin) mit.

Was die Sonette anbetrifft, so konnte uns bei dieser Arbeit nur der Originalwortlaut genügen; indessen haben wir uns erlaubt in einzelnen wenigeren Fällen, auch eine der vorhandenen Uebersetzungen einzelner Sonette mitzutheilen.

Im Februar 1869.

Der Verfasser.

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