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der Einzelne seine egoistischen oder altruistischen Zwecke, soweit er sie überhaupt durchsetzen kann, mit relativ einfachen Mitteln erreichen. Je gröfser sein socialer Kreis wird, desto mehr Umwege braucht er dazu, weil die komplizierteren Verhältnisse uns vielerlei Dinge wünschenswert machen, die von unserer augenblicklichen Machtsphäre weit entfernt sind, weil sie ferner an unsere Ziele manche Nebenerfolge knüpfen, die vermieden werden müssen, weil endlich das einzelne von so vielen Bewerbern gesucht wird, dafs der direkte Weg auf jenes zu oft das Letzte ist, und die Hauptsache in dem oft sehr komplizierten Unschädlichmachen der Konkurrenten und in der Gewinnung von Beiständen besteht, die ihrerseits wieder nur indirekt erlangbar und verwendbar sind. Die Folge von alledem ist, dafs zum Erreichen des eigentlichen egoistischen Zieles wir in gröfseren Kreisen vielerlei thun müssen, was nicht unmittelbar egoistisch ist, vielerlei Kräfte in Bewegung setzen, die ihren eigenen Gesetzen und Zwecken folgen, wenn sie auch schliefslich die unseren fördern. In je weiteren Verhältnissen wir leben, desto weniger pflegt die Arbeit für das eigene Glück dieses unmittelbar zu bereiten, sondern besteht in der Bearbeitung äufserer und hauptsächlich menschlicher Objekte, welche dann erst lusterweckend auf uns zurückwirken. Mag der Endzweck noch so sehr ein persönlicher sein zu den Mitteln müssen wir uns aus uns selbst entfernen. Abgesehen nun davon, dafs dies die Sittlichkeit der subjektiven Gesinnung insofern fördert, als das so erforderliche Kennenlernen objektiver Verhältnisse sehr oft auch ein Interesse für sie hervorruft und die Hingabe an andere Menschen und Dinge um selbstischer Endzwecke willen häufig in einer selbstlosen Hingabe an sie gemündet hat - abgesehen hiervon, sind die Umwege zu jenem Endzwecke oft durchaus sittlicher Natur; je gröfser der sociale Kreis ist, je entwickelter namentlich die wirtschaftlichen Beziehungen, desto häufiger mufs ich den Interessen anderer dienen, wenn ich will, dafs sie den meinen dienen sollen. Dies bringt eine Versittlichung der gesamten socialen Lebensatmosphäre mit sich, die nur deshalb im Unbewussten zu bleiben pflegt, weil die Endzwecke, um derentwillen sie entsteht, egoistische sind. Die innere Sittlichkeit des Individuums wird darum zunächst noch keine höhere, weil über diese nicht die That zu gunsten der anderen, sondern die Gesinnung entscheidet, aus der heraus sie geschieht; dennoch müssen die thatsächlichen Erfolge sittlich genannt werden, insofern sie die Förderung anderer mit sich bringen; und da dies mit der Ausdehnung unserer Beziehungen immer notwendigeres Vehikel

zu

unsern Zwecken wird, so läfst die Vergröfserung des Kreises uns thatsächlich sittlicher handeln, ohne dafs wir eigentlich ein Verdienst daran hätten. Auch liegt die Ur

sache davon nicht etwa in einer Kollektivsittlichkeit, sondern in dem Zusammentreffen egoistischer Ziele mit einer derartigen Gröfse des socialen Kreises, dafs jene nur durch eine Reihe von Umwegen altruistischer Natur zu erreichen sind.

In etwas höherem Grade läfst eine andere Station des gleichen Umweges die Sittlichkeit im Handeln des Einzelnen als Resultat einer Kollektivsittlichkeit erscheinen. Nicht nur Menschen brauchen wir zu unsern Zwecken, sondern auch objektive Einrichtungen. Die Festsetzungen des Rechts, der Sitte, der Verkehrsformen jeder Art, die die Allgemeinheit zu ihrem Nutzen, d. h. im sittlichen Interesse, geprägt hat, erstrecken sich schliefslich soweit in alle Lebensverhältnisse des Einzelnen hinein, dafs er in jedem Augenblick von ihnen Gebrauch machen mufs. Auch die egoistischsten Absichten können, abgesehen von unmittelbarer Gewaltthat, nicht anders verwirklicht werden als in den social vorgeschriebenen Formen. Mit jedem Male aber, wo man sich dieser Formen bedient, werden sie gestärkt, und dadurch mufs die unsittlichste Absicht gewissermassen der Sittlichkeit ihre Steuer entrichten, indem sie die Formen anwendet, in denen die öffentliche Moral objektiv geworden ist. Es ist die Aufgabe der fortschreitenden Socialisierung, diese Steuer immer zu erhöhen, so dafs der Weg zur Unsittlichkeit, der freilich nie ganz verlegt werden kann, wenigstens durch möglichst viele Gebiete des Sittlichen hindurchgehen mufs und so den Weg durch sie verbreitern und festigen hilft. Der Gauner, der eine betrügerische Transaktion in streng rechtlichen Formen vollzieht, der Schurke, der die Regeln der gesellschaftlichen Höflichkeit genau beobachtet, der Sybarit, dessen unsittlich verschwenderische Ausgaben sich wenigstens in den ökonomischen Formen vollziehen, die seine Gruppe als die zweckmässigsten konstituiert hat, der Heuchler, der um irgend welcher persönlichen Zwecke willen sein Leben nach religiösen Normen einrichtet, sie alle leisten der Sittlichkeit, der Förderung des Allgemeinen sozusagen im Vorbeigehen einen Beitrag, an dem das Verdienst freilich nicht ihrem Willen, sondern der socialen Verfassung zuzuschreiben ist, die den Einzelnen in seinen unsittlichen Bestrebungen auf Wege zwingt, auf denen er den öffentlichen Institutionen und damit dem öffentlichen Wohle steuerpflichtig wird.

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Die besprochene Abwälzung der individuellen Schuld auf die Gesellschaft gehört im übrigen zu denjenigen Erkenntnissen, deren Verbreitung der Socialpädagogik bedenklich erscheinen könnte. Denn sie möchte leicht zu einer Art Ablafs für die persönliche Schuld werden, und in dem Mafse, in dem das Gewissen sich erleichtert fühlt, dürfte die Verführung zur That wachsen. Der Gewinn der Unsittlichkeit bleibt dem Individuum, während sozusagen die moralischen Unkosten der

Allgemeinheit zur Last fallen. Für dieses Verhältnis haben wir ein Symbol, das auch an sich für die Frage der Kollektivverantwortlichkeit wichtig ist, an den Aktiengesellschaften. Wo persönliche Haftbarkeit stattfindet, da wird schon das eigene Interesse die Tendenz haben, vor allzu gewagter Spekulation, vor Überschuldung, Überproduktion u. s. w. zu bewahren. Für den Vorstand einer Aktiengesellschaft dagegen, der mit fremdem Gelde operiert, fehlt dieser Regulator; er kann in ein Risiko eintreten, von dessen Gelingen er mit profitiert, dessen Mifslingen aber weiter keine Konsequenzen für ihn hat, als dafs er einfach herausgeht, wenn die Sache zusammengebrochen ist, während die Gläubiger das Nachsehen haben. Wie in jenem moralischen Falle die Schuld, lasten im ökonomischen die Schulden auf einem Wesen, dessen Unpersönlichkeit diese Überwälzung duldet und zu ihr verlockt. Hier ist jedoch recht zu beobachten, wie ein fortschreitender, in sehr verwickelte Verhältnisse eingreifender Gedanke differenzierend wirkt, d. h. Förderung und Zuspitzung ganz entgegengesetzter Tendenzen in gleichem Mafse bringt. Denn während einerseits die Erkenntnis unserer socialen Abhängigkeit das individuelle Gewissen abstumpfen kann, mufs sie dasselbe andererseits schärfen, weil sie lehrt, dafs jeder Mensch im Schnittpunkt unzähliger socialer Fäden steht, so dafs jede seiner Handlungen die mannichfachsten socialen Wirkungen haben mufs; innerhalb der socialen Gruppe fällt sozusagen kein Samenkorn auf den Felsen, wofür die an keinem Punkt unterbrochenen Wechselwirkungen mit der lebenden Generation in Hinsicht der Gegenwart, der Einfluss jedes Thuns auf das Vererbungsmaterial aber in Hinsicht der Zukunft sorgen. Die Beschränkung des Individuums auf sich selbst hört sowohl a parte ante wie a parte post auf, so dafs die sociologische Betrachtung sowohl seine Entlastung wie seine Belastung steigert und sich so als echtes Kulturprinzip erweist, das von der Einheit einer Idee aus differenteste Inhalte des Lebens zu weiterer Ausgeprägtheit und Vertiefung differenziert.

III.

Die Ausdehnung der Gruppe und die Ausbildung der Individualität.

Bei1 dem Verhältnis zwischen der Ausbildung der Individualität und dem socialen Interesse ist vielfach zu beobachten, dafs die Höhe der ersteren Schritt hält mit der Erweiterung des Kreises, auf den sich das letztere erstreckt. Haben wir zwei sociale Gruppen, M und N, die sich scharf von einander unterscheiden, sowohl nach den charakteristischen Eigenschaften wie nach den gegenseitigen Gesinnungen, deren jede aber in sich aus homogenen und eng zusammenhängenden Elementen besteht: so bringt die gewöhnliche Entwicklung unter den letzteren eine steigende Differenzierung hervor; die ursprünglich minimalen Unterschiede unter den Individuen nach aufserlichen und innerlichen Anlagen und deren Bethätigung verschärfen sich durch die Notwendigkeit, den umkämpften Lebensunterhalt durch immer eigenartigere Mittel zu gewinnen; die Konkurrenz bildet bekanntlich die Specialität des Individuums aus. Wie verschieden nun auch der Ausgangspunkt dieses Prozesses in M und N gewesen sei, so mufs er diese doch allmählich einander verähnlichen. Es ist von vornherein wahrscheinlich, dass, je gröfser die Unähnlichkeit der Bestandteile von M unter sich und derer von N unter sich wird, sich eine immer wachsende Anzahl von Bildungen im einen finden werden, die solchen im andern ähnlich sind; die nach allen Seiten gehende Abweichung von der bis dahin für jeden Complex für sich giltigen Norm mufs notwendig eine Annäherung der Glieder des einen an die des andern

1 Dieses Kapitel erschien in verkürzter Form vor mehreren Jahren in der Zeitschrift für wissenschaftliche Philosophie, Bd. XII, Heft 1.

erzeugen. Schon deshalb wird dies geschehen, weil unter noch so verschiedenen socialen Gruppen die Formen der Differenzierung gleich oder ähnlich sind: die Verhältnisse der einfachen Konkurrenz, die Vereinigung vieler Schwacher gegen einen Starken, die Pleonexie Einzelner, die Progression, in der einmal angelegte individuelle Verhältnisse sich steigern u. s. w. Die Wirkung dieses Prozesses von der blos formalen Seite kann man häufig in der internationalen Sympathie beobachten, die Aristokraten unter einander hegen und die von dem specifischen Inhalt des Wesens, der sonst über Anziehung und Abstofsung entscheidet, in wunderlicher Weise unabhängig ist. Nachdem der sociale Differenzierungsprozess zu der Scheidung zwischen Hoch und Niedrig geführt hat, bringt die blos formale Thatsache einer bestimmten socialen Stellung die durch sie charakterisierten Mitglieder der verschiedenartigsten Gruppen in innerliche, oft auch aufserliche Beziehung.

Dazu kommt, dafs mit einer solchen Differenzierung der socialen Gruppe die Nötigung und Neigung wachsen wird, über ihre ursprünglichen Grenzen in räumlicher, ökonomischer und geistiger Beziehung hinauszugreifen und neben die anfängliche Centripetalität der einzelnen Gruppe bei wachsender Individualisierung und dadurch eintretender Repulsion ihrer Elemente eine centrifugale Tendenz als Brücke zu andern Gruppen zu setzen. Wenige Beispiele werden für diesen an sich einleuchtenden Vorgang genügen. Während ursprünglich in den Zünften der Geist strenger Gleichheit herrschte, der den Einzelnen einerseits auf diejenige Quantität und Qualität der Produktion einschränkte, die alle andern gleichfalls leisteten, andererseits ihn durch Normen des Verkaufs und Umsatzes. vor Überflügelung durch den andern zu schützen suchte, war es doch auf die Dauer nicht möglich, diesen Zustand der Undifferenziertheit aufrecht zu halten. Der durch irgendwelche Umstände reich gewordene Meister wollte sich nicht mehr in die Schranken fügen, nur das eigene Fabrikat zu verkaufen, nicht mehr als eine Verkaufsstelle und eine sehr beschränkte Anzahl von Gehülfen zu halten, und Ähnliches. Indem er aber das Recht dazu, zum Teil unter schweren Kämpfen, gewann, musste ein Doppeltes eintreten: einmal mufste sich die ursprünglich homogene Masse der Zunftgenossen mit wachsender Entschiedenheit in Reiche und Arme, Kapitalisten und Arbeiter differenzieren; nachdem das Gleichheitsprinzip einmal so weit durchbrochen war, dafs Einer den Andern für sich arbeiten lassen und seinen Absatzmarkt frei nach seiner persönlichen Fähigkeit und Energie, auf seine Kenntnis der Verhältnisse und seine Chancenberechnung hin, wählen durfte, so mufsten eben jene persönlichen Eigenschaften mit der Möglichkeit, sich zu entfalten, sich auch stei

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