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sten Erkennen, Empfinden oder Handeln, ihre Zurückführung auf erste Prinzipien dies alles sind Angelegenheiten, die in einem ideellen Weltbild obenan stehen mögen, bei der thatsächlichen Bildung desselben aber sowohl der Zeit als der Wichtigkeit nach nur Epilog sind.

Diesem geschichtlichen Gang sich entwickelnder Erkenntnis entspräche es, wenn man insbesondere bei einer erst beginnenden Wissenschaft, wie die Sociologie ist, alle Kraft an die Einzelforschung setzte, um ihr zunächst einen Inhalt, eine gesicherte Bedeutung zu geben, und die Fragen der Methode und der letzten Ziele so lange bei Seite liefse, bis man hinreichendes thatsächliches Material für ihre Beantwortung hat, auch weil man andernfalls in die Gefahr geräth, eine Form zu schaffen, ohne die Sicherheit eines möglichen Inhaltes, ein Gesetzbuch ohne Subjekte, die ihm gehorchen, eine Regel ohne Fälle, aus denen sie gezogen wird und die ihre Richtigkeit gewährleisteten.

Dies im allgemeinen zugegeben, begründet doch der jetzige Zustand der Wissenschaften einen Unterschied gegen die oben charakterisierten früheren Arten, eine solche zustande zu bringen. Wie sich moderne politische Revolutionen dadurch von denen primitiverer Zeiten unterscheiden, dafs man heute schon bekannte, anderwärts verwirklichte und erprobte Zustände zu verwirklichen sucht, dafs eine bewufste Theorie vorangeht, der man die Praxis nachbildet: so wird es auch durch die höhere Bewusstheit des modernen Geistes gerechtfertigt, dafs man aus der Fülle vorhandener Wissenschaften und bewährter Theorieen heraus die Umrisse, Formen und Ziele einer Wissenschaft fixiere, bevor man an den thatsächlichen Aufbau derselben geht.

Ein besonderes Moment kommt noch für die Sociologie hinzu. Sie ist eine eklektische Wissenschaft, insofern die Produkte anderer Wissenschaften ihr Material bilden. Sie verfährt mit den Ergebnissen der Geschichtsforschung, der Anthropologie, der Statistik, der Psychologie wie mit Halbprodukten; sie wendet sich nicht unmittelbar an das primitive Material, das andere Wissenschaften bearbeiten, sondern, als Wissenschaft sozusagen zweiter Potenz, schafft sie neue Synthesen aus dem, was für jene schon Synthese ist. In ihrem jetzigen Zustande giebt sie nur einen neuen Standpunkt für die Betrachtung bekannter Thatsachen. Deshalb aber ist es für sie besonders erforderlich, diesen Standpunkt zu fixieren, weil die Wissenschaft allein von ihm ihren specifischen Charakter entlehnt, nicht aber von ihrem, den Thatsachen nach sonst schon bekannten Material. In diesem Fall sind die allgemeinen Gesichtspunkte, die Einheit des letzten Zwecks, die Art der Forschung mit Recht das Erste, was in das Bewufstsein zu heben ist; denn dies mufs thatsächlich in ihm vor

handen sein, damit es zu der neuen Wissenschaft komme, während andere mehr von dem Material als von seiner Formung ausgehen, welche letztere bei ihnen unmittelbarer durch das erstere gegeben wird. Es braucht kaum erwähnt zu werden, dafs es sich dabei nur um graduelle Unterschiede handelt, dafs im letzten Grunde der Inhalt keiner Wissenschaft aus blofsen objektiven Thatsachen besteht, sondern immer eine Deutung und Formung derselben nach Kategorieen und Normen enthält, die für die betreffende Wissenschaft a priori sind, d. h. von dem auffassenden Geiste an die an und für sich isolierten Thatsachen herangebracht werden. Bei der Socialwissenschaft findet nur ein quantitatives Ueberwiegen des kombinatorischen Elementes gegenüber anderen Wissenschaften statt, woher es denn bei ihr besonders gerechtfertigt erscheint, sich die Gesichtspunkte, nach denen ihre Kombinationen erfolgen, zu theoretischem Bewusstsein zu bringen.

Damit ist indes natürlich nicht gemeint, dafs es unbestrittener und festumgrenzter Definitionen für die Grundbegriffe der Sociologie bedürfe, dass man z. B. von vornherein die Fragen beantworten könne: was ist eine Gesellschaft? was ist ein Individuum? wie sind gegenseitige psychische Wirkungen der Individuen auf einander möglich? u. s. w.; vielmehr wird man sich auch hier mit einer nur ungefähren Umgrenzung des Gebietes begnügen und die völlige Einsicht in das Wesen der Objekte von, aber nicht vor der Vollendung der Wissenschaft erwarten müssen, wenn man nicht in den Irrtum der älteren Psychologie verfallen will: man müsse zuerst das Wesen der Soele definiert haben, ehe man die seelischen Erscheinungen wissenschaftlich erkennen könne. Noch immer gilt die aristotelische Wahrheit, dass, was der Sache nach das Erste ist, für unsere Erkenntnis das Späteste ist. Im logisch systematischen Aufbau der Wissenschaft bilden freilich die Definitionen der Grundbegriffe das Erste; allein erst eine fertige Wissenschaft kann sich so vom Einfachsten und Klarsten aufbauen. Wenn eine Wissenschaft erst zustande gebracht werden soll, muss man von den unmittelbar gegebenen Problemen ausgehen, die immer höchst kompliziert sind und sich erst allmählich in ihre Elemente auflösen lassen. Das einfachste Resultat des Denkens ist eben nicht das Resultat des einfachsten Denkens.

Vielleicht ist das unmittelbar gegebene Problem auch gerade bei der Socialwissenschaft eines der kompliziertesten, die überhaupt denkbar sind. Ist der Mensch das höchste Gebilde, zu dem die natürliche Entwickelung sich aufgipfelt, so ist er dies doch nur dadurch, dafs ein Maximum verschiedenartiger Kräfte sich in ihm gehäuft hat, die durch gegenseitige Modifizierung, Ausgleichung und Auslese eben

diesen Mikrokosmos zustande brachten; offenbar ist jede Organisation eine um so höhere, je mannichfaltigere Kräfte sich in ihr im Gleichgewicht befinden. Ist nun schon das menschliche Einzelwesen mit einer fast unübersehbaren Fülle latenter und wirkender Kräfte ausgestattet, so mufs die Komplikation da noch eine viel gröfsere werden, wo gegenseitige Wirkungen solcher Wesen auf einander vorliegen und die Kompliziertheit des einen, gewissermafsen mit der des andern sich multiplizierend, eine Unermesslichkeit von Kombinationen ermöglicht. Wenn es also die Aufgabe der Sociologie ist, die Formen des Zusammenseins von Menschen zu beschreiben und die Regeln zu finden, nach denen das Individuum, insofern es Mitglied einer Gruppe ist, und die Gruppen untereinander sich verhalten, so hat die Kompliziertheit dieser Objekte eine Folge für unsere Wissenschaft, die sie in einer erkenntnistheoretischen Beziehung, der ich eine ausführliche Begründung widmen inufs, neben die Metaphysik und die Psychologie stellt. Diese beiden haben nämlich das Eigentümliche, dafs durchaus entgegengesetzte Sätze in ihnen das gleiche Mafs von Wahrscheinlichkeit und Beweisbarkeit aufzeigen. Dafs die Welt im letzten Grunde absolut einheitlich und alle Individualisierung und aller Unterschied nur ein täuschender Schein sei, kann man ebenso plausibel machen, wie den Glauben an die absolute Individualität jedes Teiles der Welt, in der nicht einmal ein Baumblatt dem andern völlig gleich ist, und dafs alle Vereinheitlichung nur eine subjektive Zuthat unsres Geistes, nur die Folge eines psychologischen Einheitstriebes sei, für den keine objektive Berechtigung nachweisbar wäre; der durchgehende Mechanismus und Materialismus im Weltgeschehen bildet ebenso einen letzten metaphysischen Zielpunkt, wie im Gegentheil die Hinweisung auf ein Geistiges, das überall durch die Erscheinungen hindurchblickt und den eigentlichen letzten Sinn der Welt ausmacht; wenn ein Philosoph das Gehirn als das Ding-an-sich des Geistes bezeichnet hat, und ein anderer den Geist als das Ding-an- sich des Gehirns, so hat der eine ebenso tiefe und gewichtige Gründe für seine Meinung angeführt, wie der andere. Und Ähnliches beobachten wir in der Psychologie, wo ihr noch nicht der Zusammenhang mit der Physiologie die Isolierung und damit die exaktere Beobachtung der primitiven sinnlichen Grundlagen des Seelenlebens ermöglicht, sondern wo es sich um Kausalverhältnisse der an der Oberfläche des Bewusstseins auftauchenden Gedanken, Gefühle, Willensakte handelt. Da sehen wir denn, dafs persönliche Glückssteigerung die Ursache von selbstloser Freundlichkeit ist, die den Andern gern ebenso glücklich sehen möchte, wie man selbst ist, ebenso oft aber von hartherzigem Stolz, dem das Verständnis für das Leiden anderer abhanden gekommen ist; beides lässt sich psycho

logisch gleichmäfsig plausibel machen. Und so deduzieren wir mit gleicher Wahrscheinlichkeit, dafs die Entfernung gewisse Empfindungen zweier Menschen für einander steigert, wie dafs sie sie schwächt; dafs der Optimismus, aber auch gerade der Pessimismus die Vorbedingung eines kräftigen ethischen Handelns ist; dafs die Liebe zu einem engeren Kreise von Menschen das Herz nun auch für die Interessen weiterer Kreise empfänglich macht, wie dafs sie dasselbe gegen die letzteren abschliefst und verbaut. Und ebenso wie der Inhalt lässt sich auch die Richtung der psychologischen Verknüpfung umkehren, ohne an Richtigkeit einzubüfsen. Dafs Unsittlichkeit die Ursache inneren Unglücks ist, wird uns mit ebenso starken Gründen von dem einen Psychologen bewiesen, wie von dem andern, dafs das Unglück die Ursache der Demoralisierung ist; dafs der Glaube an gewisse religiöse Dogmen die Ursache geistiger Unselbständigkeit und Verdummung wird, ist mit nicht schlechteren Gründen und Beispielen bewiesen, wie das umgekehrte, dafs die geistige Unzulänglichkeit der Menschen eigentlich die Ursache sei, die sie zum Glauben an überirdische Dinge greifen liefs. Kurz, weder in metaphysischen noch in psychologischen Dingen findet sich die Eindeutigkeit einer wissenschaftlichen Regel, sondern stets die Möglichkeit, jeder Beobachtung oder Wahrscheinlichkeit die entgegengesetzte entgegenzustellen.

Die Ursache dieser auffallenden Zweideutigkeit ist offenbar die, dafs die Objekte, über deren Beziehungen ausgesagt wird, schon an und für sich nicht eindeutig sind. Das Ganze der Welt, von dem metaphysische Behauptungen sprechen, enthält eine solche Fülle und Mannigfaltigkeit von Einzelheiten, dafs fast jede beliebige Behauptung über dasselbe eine Anzahl von Stützen findet, die oft genug soviel psychologisches Gewicht besitzen, um entgegenstehende Erfahrungen und Deutungen aus dem Bewusstsein zu verdrängen, die nun ihrerseits in andern, gerade für sie disponierten Geistern den Gesamtcharakter des Weltbildes bestimmen. Das Falsche liegt nur darin, dass entweder eine partielle Wahrheit zu einer absolut gültigen verallgemeinert, oder aus der Beobachtung gewisser Thatsachen ein Schlufs auf das Ganze gezogen wird, der unmöglich wäre, wenn die Beobachtung noch weiter ausgedehnt wäre; also sozusagen weniger Irrtümer im Inhalt des Urteils als in dessen Betonung, mehr in der Quantität als in der Qualität. Nane dabei fliefst die Quelle für die Unzulänglichkeit der psychologischen Urteile. Die Allgemeinbegriffe psychischer Funktionen, zwischen denen sie Verbindungen stiften, sind so sehr allgemein und schliefsen eine solche Fülle von Nüancen ein, dafs je nach der Betonung der einen oder der andern ganz verschiedene Folgen aus dem der Bezeichnung nach identischen Affect hervorgehen können;

X 1. ein so weites Gebiet umfafst z. B. der Begriff des Glücks oder der Religiosität, dafs die von einander abstehendsten Punkte desselben trotz des Enthaltenseins unter dem gleichen Begriff durchaus als Ursachen heterogener Folgen verständlich sind. Ganz Unrecht hat mithin keine jener allgemeinen psychologischen Sentenzen; sie irren meistens nur darin, dafs sie die specifische Differenz vernachlässigen, die, die in Rede stehenden Allgemeinbegriffe näher bestimmend, sie bald in diese, bald in jene ganz entgegengesetzte Verbindung bringt. Es ist ganz richtig, dafs Trennung die Liebe steigert; aber nicht Trennung überhaupt und Liebe überhaupt, sondern nur eine bestimmte Art beider steht in diesem Verhältnis; und ebenso ist es richtig, dafs Trennung die Liebe schwächt; aber nicht jede Trennung jede Liebe, sondern eine gewisse Nuance der ersteren schwächt eine gewisse Nüance der letzteren Hier ist auch insbesondere der Einfluss der Quantität des seelischen Affekts im Auge zu behalten. Wir können freilich gewisse Abänderungen einer Empfindung nur unter die Denk- und Sprachkategorie der Quantität bringen und bezeichnen sie deshalb noch immer mit dem gleichen Begriff; thatsächlich aber sind es auch innerliche, qualitative Veränderungen, die auf diese Weise mit ihr vorgehen. Wie ein grofses Kapital zwar nur quantitativ anders ist, als ein kleines, dennoch aber qualitativ ganz anders geartete wirtschaftliche Wirkungen ausübt, so und noch viel mehr ist der Unterschied zwischen einer grofsen und einer geringen Empfindung in Liebe und Hafs, Stolz und Demut, Lust und Leid ein nur scheinbar quantitativer, thatsächlich aber ein so genereller, dafs, wo über die psychologischen Beziehungen einer Empfindung als solcher und im allgemeinen ausgesagt werden soll, je nach dem Quantum derselben, über das man gerade Erfahrungen gesammelt hat, die heterogensten Verbindungen derselben beweisbar sind. Und nun das, was für die Analogie, die ich im Auge habe, das Wichtigste ist. Wo wir von der Verursachung irgend eines psychischen Ereignisses durch ein anderes sprechen, da ist das letztere in der Isolierung und Selbständigkeit, die sein sprachlicher Ausdruck anzeigt, doch nie die an sich zureichende Veranlassung des ersteren; vielmehr gehört der ganze übrige bewusste und unbewufste Seeleninhalt dazu, um, im Verein mit der neu eingetretenen Bewegung, den weiteren Vorgang zuwege zu bringen. Insofern man psychische Ereignisse wie Liebe, Hafs, Glück, oder Qualitäten wie Klugheit, Reizbarkeit, Demut und ähnliche als Ursachen bezeichnet, fafst man in ihnen einen ganzen Komplex mannichfaltiger Kräfte zusammen, die nur von jener besonders hervorgehobenen die Färbung oder die Richtung empfangen. Das Bestimmende hierbei ist nicht nur der allgemeine erkenntnistheoretische Grund, dafs die Wirkung jeder

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