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daher mit wenig Worten leicht sehr viel von ihnen sagen kann; zweitens, weil die Denkmäler selbst, auf offenen Straßen und Pläßen, nicht sowohl für die wenigen müßigen Spaziergänger, als vielmehr für den Geschäftigen, für den eilenden Wanderer errichtet werden, welcher seine Be lehrung gleichsam im Vorbeigehen muß mit sich nehmen können. Eben so sollte man bei einer Sammlung von Sinnschriften vornehmlich auf solche Leser sehen, welchen es andere Geschäfte nur selten erlauben, einen flüchtigen Blick in ein Buch zu thun. Solche Leser wollen geschwind, und doch nicht leer abgefertigt seyn; für das leßte aber halten sie sich allezeit, wenn man sie entweder mit ganz gemeinen, oder ihnen ganz fremden Sachen unterhalten wollen.

Die Fehler gegen die Kürze des Aufschlusses sind indeß, bei allen Arten der Epigrammatisten, wohl die seltensten. Der schlechteste nimmt nie die Feder, ein Epigramm niederzuschreiben, ohne den Aufschluß vorher so gut und kurz gerundet zu haben, als es ihm möglich ist. Oft hat er nichts voraus bedacht, als diesen einzigen Aufschluß, der daher auch nicht selten eben das ist, was der Dietrich unter den Schlüsseln ist, ein Werkzeug, welches eben so gut hundert verschiedene Schlösser eröffnen kann, als eines.

Hingegen ist es gerade der bessere Dichter, welcher noch am ersten hier fehlerhaft werden kann; und zwar aus Ueberfluß von Wiß und Scharfsinn. Ihm kann es leicht begeg nen, daß er unter der Arbeit auf einen guten Aufschluß geräth, noch ehe er zu dem gelangen kann, den er sich vor: gesezt hatte; oder daß er jenseits diesem noch einen andern erblickt, den er sich ebenfalls nicht gern möchte entwischen lassen. Mich deucht, so etwas ist selbst dem Martial mit folgendem Sinngedichte widerfahren: 1

In Ligurinum.

Occurrit tibi nemo quod libenter,

Quod quacunque venis, fuga est, et ingens
Circa te, Ligurine, solitudo:

Quid sit scire cupis? nimis poeta es.

Wer kann läugnen, daß diese vier Zeilen nicht ein völliges Epigramm sind? Nur mochte dem Dichter ohne Zweifel das Nimis poeta es ein wenig zu räthselhaft vorkommen; und weil er jenseit der Umschreibung desselben, die schon an und für sich selbst sehr gefallen konnte, einen neuen Aufschluß voraus sah: so wagte er es, das schon erreichte Ende zu einem bloßen Ruhepunct zu machen, um von da nach einem neuen Ziele auszusehen; oder, wenn man will, nach dem nämlichen, daß er sich selbst nur weiter gestedt hatte. Also fährt er fort:

Hoc valde vitium periculosum est.
Non tigris catulis citata raptis,
Non dipsas medio perusta sole,
Nec sic scorpius improbus timetur.
Lib. III. ep. 44.

Nam tantos, rogo, quis ferat labores?
Et stanti legis, et legis sedenti,
Currenti legis, et legis cacanti.
In thermas fugio: sonas ad aurem.
Piscinam peto: non licet natare.
Ad coenam propero: tenes euntem.
Ad coenam venio: fugas sedentem.
Lassus dormio: suscitas jacentem.

Vis quantum facias mali, videre?

Vir justus, probus, innocens timeris.

Und wer hat eben Recht, auf einen Dichter ungehalten zu seyn, der uns, statt Eines Epigramms, in Einem zwei geben will? Besonders, wenn sie sich so gut, wie hier, in einander fügen, auch das eine durch das andere im geringsten nicht geschändet wird.

Nur aus dergleichen nicht unglüdlichen Auswüchsen eine Regel der Schönheit machen zu wollen, das ist zu arg. Gleichwohl that es Etaliger; und nach seinen Worten zu urtheilen, müßte dasjenige Epigramm das vollkommenste seyn, das aus eben so viel andern kleinen Epigrammen besteht, als es Disticha enthält. Doch sein eigenes Erempel von einem solchen Epigrammate differto, wie er es nennt, giebt die Sache näher: und wenn dieses wirklich vier Epigrammen in sich schließt, so sind sie auch alle viere darnach. Es ist auf einen Podagristen, dem man die Hungerkur vorgeschrieben hat, und lautet so: 1

Heus utrum eligimus? Si non nisi dente podagra,
Dente famis dirae discruciata perit.

Ah nequeam, nisi sic, finire dolore dolorem?
Atque ferum finem tollere fine truci?
Heu macie informi, larvata heu tabe furorem,
Et funus plus quam funere praeveniens.

O vitam invitam: o incommoda commoda: lux nox!
Si, ne aliquid fias, cogeris esse nihil.

Es ist zu verwundern, wie sehr sich auch die gelehrtesten Leute verblenden können, sobald sie aus ihren eigenen Beispielen etwas abstrahiren wollen. Dieses Epigramm foll vier Epigramme enthalten, und es ist zur höchsten Noth kaum eines: nur daß der schale Ausschluß desselben in jeder Zeile wie eine Wasserblase mehr und mehr aufschwellt, bis er endlich in ein wahres Nichts zerstiebt.

Eher war unser Wernike der Mann, der zu dieser vollgepfropften Art von Sinngedichten ein Muster hätte. machen können. In der Theorie dachte er auch ziemlich wie Staliger, indem er diejenigen Sinngedichte, wo der „Leser fast in jeder Zeile etwas nachzudenken findet, wo er ,unvermerkt, und zuweilen ehe er es verlangt, zu dem „Schlusse geführt wird," den andern weit vorzieht, „in ,, welchen der Leser nur durch weitläufige und nichts bedeutende Umstände von dem allein klingenden Ende aufge„halten wird.“ Wernike hatte allerdings Recht, wenn es

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1 Poetices Lib. III. cap. 126. Exemplum illius differti hoc unum esto, in quo continentur quatuor Epigrammata.

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wirklich, in allem Verstande, nichts bedeutende Umstände find, durch die der Leser endlich zu dem Aufschlusse gelangt. Aber wenn denn nur jeder ihn aufhaltender Umstand, er schon für sich selbst nicht viel sagen will, dennoch seine besondere gute Beziehungen auf das allein klingende Ende hat: so ist es schon genug, und das Ganze, welches daraus entsteht, bekommt eine so gefällige Einheit, daß es unendlich schwer ist, wegen des Mangels derselben einen Leser von richtigem Geschmacke durch noch so häufig eingestreute Nebenzüge schadlos zu halten.

Das eigene Beispiel des Wernike ebenfalls, welches er von jener vorzüglichern Art des Sinngedichts geben zu fönnen glaubte, macht seine Theorie nicht gut, sondern bestätigt viel mehr, was ich von dem Mangel der Einheit gesagt habe.

Auf Mucius Sfävola.

„Als Skävola, zum Mord verführt durch seine Jugend, „So wie das Laster für die Tugend

„Den Schreiter für den König nahm,

„Und nach vollbrachter That erst zur Erkenntniß kam, „Da wußt er der Gefahr den Vortheil abzuzwingen,

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Und durch die Schande nicht verzagt,

„Das, was das Laster ihm versagt,

„Der Tugend selber abzudringen:

„Er machte, daß der Haß sich in Verwundrung wandt', „Verbrennt, entwaffnete sein und des Feindes Hand; „Und weil die edle Wuth man ihm zur Tugend zählte, „Erreicht' er seinen Zweck, indem er ihn verfehlte.“

Mich dünkt, der Dichter hätte mit der achten Zeile, „der Tugend selber abzudringen" aufhören sollen; wenigstens mit dem Gedanken, den sie enthält. Denn alles, was folgt, ist nur schleppende Umschreibung dieses Gedankens; mit einer Antithese beschlossen, die weder wahr ist, noch, wenn sie auch wahr wäre, hieher gehört. Sie ist nicht wahr : denn Stävola erreichte seinen Zweck nicht, indem er ihn verfehlte, sondern nachdem er ihn verfehlt hatte; nicht durch den Fehler, sondern durch das, was er darauf folgen ließ. Sie gehört nicht hieher, wenn sie von Seiten der Wahrheit auch schon noch zu rechtfertigen wäre: denn sie zeigt uns die ganze Handlung nunmehr aus einem völlig verschiedenen Gesichtspuncte, als wir sie vier Zeilen vorher sehen; dort wird sie uns als eine außerordentliche Anstrengung von Tugend angepriesen; hier bewundern wir sie als das Werk eines glücklichen Zufalls. Der doppelte Gesichtspunct aber ist in der Poesie kein geringerer Fehler, als in der Perspective.

3. Wenn endlich die beiden Theile des Sinngedichts zugleich, dem Denkmale und der Aufschrift zugleich entsprechen sollen: so wird auch das Verhältniß, welches sich zwischen jenen befindet, dem Verhältnisse entsprechen müssen, welches diese unter sich haben. Ich will sagen: so wie ich bei Erblickung eines Denkmals zwar nicht den Inhalt der Aufschrift, wohl aber den Ton derselben aus dem Denk

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male errathen kann; wie ich kühnlich vermuthen darf, daß ein Denkmal, welches traurige Ideen erregt, nicht eine lustige oder lächerliche Aufschrift führen werde, oder umgetebrt; eben so muß auch die Erwartung des Sinngedichts mich zwar nicht den eigentlichen Gedanken des Aufschlusses, aber doch die Farbe desselben voraus sehen lassen, so daß mir am Ende kein widriger Contrast zwischen beiden Theilen auffällt. Mich dünkt, gegen diese Regel verstößt folgendes Sinngedicht des Martials auf den Tod der Erotion, eines fleinen liebenswürdigen Mädchens, der Tochter eines seiner Leibeigenen, deren Verlust ihm so nahe ging. 1

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In Paetum.

Puella senibus dulcior mihi cycnis,
Agna Galesi mollior Phalantini,
Concha lucrini delicatior stagni:
Cui nec lapillos praeferas Erythraeos,
Nec modo politum pecudis Indicae dentem,
Nivesque primas, liliumque non tactum;
Quae crine vicit Baetici gregis vellus,
Rhenique nodos, aureamque nitellam;
Fragravit ore quod rosarium Paesti,
Quod Atticarum prima mella cerarum,
Quod succinorum rapta de manu gleba:
Cui comparatus indecens erat pavo,
Inamabilis scyurus, et frequens phoenix
Adhuc recenti tepet Erotion busto,
Quam pessimorum lex avara fatorum
Sexta peregit hyeme, nec tamen tota;
Nostros amores, gaudiumque, lususque.

Et esse tristem me meus vetat Paetus:
Pectusque pulsans, pariter et comam vellens,
Deflere non te vernulae pudet mortem?
Ego conjugem, inquit, extuli, et tamen vivo,
Notam, superbam, nobilem, locupletem.
Quid esse nostro fortius potest Paeto?
Ducenties accepit, et tamen vivit.

Dieses Sinngedicht fängt mit so sansten Empfindungen an; es nimmt mich für den weichherzigen Dichter, der sich um ein kleines unschuldiges Ding so sehr betrübt, so herzlich ein; ich fühle mich zu Mitleid und Melancholie so sehr gcstimmt, daß ich mich nach ganz etwas anderem, als einem hämischen Zuge gegen einen guten Bekannten, sehne. Betrübniß macht sonst so gutdenkend, und boshafter Wit verstummt sonst so leicht bei einem bekümmerten Herzen!

Ich rechne aber zu dergleichen Contraste nicht jeden plöglichen, unerwarteten Sprung von Groß auf Klein, oder von Schwarz auf Weiß, den die bloße Einbildung thun muß. Ein solcher Sprung kann allerdings angenehm seyn, und wenigstens den Mund in Falten ziehen, wenn nur unsere Empfindung nicht besondern Theil daran nimmt. So wie etwa dieser beim Skarron:

1 Lib. V. ep. 38.

Superbes Monuments de l'orgueil des Humains,
Pyramides, Tombeaux, dont la vaine structure
A témoigné que l'Art, par l'adresse des mains,
Et l'assidu travail, peut vaincre la Nature!

Vieux Palais ruinés, Chef d'oeuvres des Romains,
Et les derniers efforts de leur Architecture,
Colisée, où souvent ces Peuples inhumains,
De s'entr'assassiner se donnoient tablature!

Par l'injure des ans vous êtes abolis! Ou du moins la plupart vous êtes démolis! Il n'est point de ciment que le tems ne dissoude. Si vos Marbres si durs ont senti son pouvoir, Dois-je trouver mauvais qu'un méchant Pourpoint noir, Qui m'a duré deux ans, soit percé par le coude?

Der Posse thut seine Wirkung. Gleichwohl ist auch hier der Sprung nicht völlig unvorbereitet. In der pompösen Erwartung mangelt es nicht ganz an burlesken Ausdrücken, durch die wir unmerklich auf ihn ansezen: und mag er doch gerathen, wie er will; wir sollen ja nur lachen. Ich könnte hier anführen, daß das Original dieses Starron'schen Sinngedichts, oder Sonetts, das Epigramm eines alten unbekannten Dichters zu seyn scheine, welches Barth zuerst bekannt gemacht hat, und das noch lächerlicher ausfällt, wenn es anders wahr ist, was Cicero irgendwo anmerkt, daß das Obscöne das Lächerliche vermehre. Denn anstatt der durchgestoßenen Weste Doch wer Lust hat, kann es bei dem Barth selbst nachsehen. 1 Es ist vielmehr Zeit, daß ich dergleichen Sinngedichte überhaupt, in welchen der Leser seine Erwartung, nicht ohne Vergnügen, vielmehr getäuscht, als erfüllt sieht, von einer allgemeinen Seite betrachte.

(4.)

Einige Leser dürften bei allem, was ich bisher von dem Sinngedichte gesagt habe, noch immer das Beste vermissen. Sie kennen es als das sinnreichste von allen kleinen Gedichten; als eine wißige Schnurre wohl nur: und doch ist des Wizes von mir noch kaum gedacht worden, geschweige, daß ich die verschiedenen Quellen des Sinnreichen anzugeben gesucht hätte. Ich habe die ganze Kraft, die ganze Schönheit des Epigramms in die erregte Erwartung und in die Befriedigung dieser Erwartung gesezt, ohne mich weiter einzulassen, durch welche Art von Gedanken und Einfällen solche Befriedigung am besten geschehe. Was die lateinischen Kunstrichter acumina, und die französischen pointes nennen, habe ich weder erfordert, noch bisher verworfen.

Wenn indeß unter diesen Worten nichts anders verstanden werden soll, als derjenige Gedanke, um dessen willen die Erwartung erregt wird, der also natürlicher Weise nach der Erwartung, am Ende des Ganzen, stehen muß, und sich von allen übrigen Gedanken, als die nur seinetwegen da sind, nicht anders als auszeichnen kann:

Advers. Lib. XXXVI. c. II.

so ist es wohl klar, daß das Sinngedicht ohne dergleichen acumen oder pointe schlechterdings nicht seyn kann. Es bleibt vielmehr dieses acumen das wahre allgemeine Kennzeichen desselben, und man hat Recht, allen kleinen Gedich ten, denen es mangelt, den Namen des Sinngedichts zu versagen, wenn sie auch sonst noch so viel Schönheiten haben, die man ihnen auf keine Weise darum zugleich streitig macht.

Wenn hingegen unter acumen oder pointe man etwas meint, was bloß das Werk des Wißes ist; mehr ein Gedankenspiel, als einen Gedanken; einen Einfall, dessen Anzügliches größtentheils von der Wahl oder Stellung der Worte entsteht, in welchen er ausgedrückt ist, oder von dem wohl gar nichts Gesundes übrig bleibt, sobald man diese Worte ändert oder versezt: so ist die Frage, ob das Sinngedicht nothwendig eine dergleichen pointe haben müsse? der Frage vollkommen gleich, ob man besser thue, seine Schulden in guter oder in falscher Münze zu bezahlen?

Denn so wie es nur der Mangel an guter Münze ist, welcher falsche Münze zu prägen verleitet, eben so ist es nur der Schwierigkeit, jede erregte Erwartung immer mit einem neuen und doch wahren, mit einem scharfsinnigen und doch ungekünstelten Aufschlusse zu befriedigen,

nur diese Schwierigkeit, sage ich, ist es, welche nach Mitteln umzuschauen verführt, durch die wir jene Befriedi gung geleistet zu haben wenigstens scheinen können.

Glücklich, wenn man unter diesen Mitteln nur noch die erträglichsten zu wählen versteht! Denn es giebt in der That auch hier paduanische Münzen, die zwar falsche aber doch von so schönem und dem wahren so nahe kommendem Stempel sind, daß sie gar wohl aufbehalten zu werden verdienen. Ja es giebt noch andere, deren innerer Werth nur wenig geringer ist als der ächten, so daß der Münzer wenig mehr als den Schlagschaß dabei gewinnen konnte.

Besonders möchte ich mit dergleichen weder ganz falschen, noch ganz ächten Münzen, die, wenn sie schon nicht im Handel und Wandel gelten können, doch immer schöne Spielmarken abgeben, zwei Gattungen von Sinngedichten vergleichen, die, ohne zu den vollkommenen zu gehören, doch von jeher auch unter Leuten von Geschmack ihre Liebhaber gefunden haben, und so noch ferner finden werden. Unter der ersten Gattung verstehe ich die, welche uns mit ihrer Erwartung hintergehen: und unter der andern die, deren Aufschluß in einer Zweideutigkeit besteht. Von jeder ein Wort.

1. Das Neue ist, eben weil es neu ist, dasjenige, was am meisten überrascht. Ob nun gleich dieses Ueberraschende nicht das einzige seyn muß, wodurch das Neue gefällt, so ist es doch unstreitig, daß schon die bloße Ueberraschung angenehm ist. Wenn es denn aber nur selten in des Dichters Vermögen steht, seinen Leser mit einem wirklich neuen Aufschlusse zu überraschen: wer kann es ihm verdenken, wenn er seinem gemeinen Einfalle eine solche Wendung zu

geben sucht, daß er wenigstens diese Eigenschaft des Neuen, das Ueberraschende, dadurch erhält? Und dieses kann nicht anders geschehen, als durch eine Art von Betrug. Weil er dem Leser nichts geben kann, was dieser auf keine Weise voraus sehen könnte, so verführt er ihn, etwas ganz anders voraus zu sehen, als er ihm endlich giebt. Er hebt 3. E. von hohen Dingen an, und endet mit einer Nichts: würdigkeit; er scheint loben zu wollen, und das Lob läuft | auf einen Tadel hinaus; er scheint tadeln zu wollen, und der Tadel verkehrt sich in ein feines Lob. Doch so ganz einander entgegengesezt brauchen die Dinge auch nicht einmal zu seyn: genug, wenn der Blick des Lesers auch nur gerade vorbei schießt. Ein einziges Erempel aus dem Martial sey| statt aller. 1

In Sanctram.

Nihil est miserius, nec gulosius Sanctra.
Rectam vocatus cum cucurrit ad coenam,
Quam tot diebus noctibusque captavit;
Ter poscit apri glandulas, quater lumbum,
Et utramque coxam leporis, et duos armos.
Nec erubescit pejerare de turdo,
Et ostreorum rapere lividos cirros.
Buccis placentae sordidam linit mappam.
Illic et uvae collocantur ollares,
Et Punicorum pauca grana malorum,
Et excavatae pellis indecens vulvae,
Et lippa ficus, debilisque boletus.

Sed mappa cum jam mille rumpitur furtis,
Rosos tepenti spondylos sinu condit,
Et devorato capite turturem truncum.
Colligere longa turpe nec putat dextra
Analecta, quicquid et canes reliquerunt.
Nec esculenta sufficit gulae praeda,
Misto lagenam replet ad pedes vino.
Haec per ducentas cum domum tulit scalas,
Seque obserata clusit anxius cella,
Gulosus ille postero die - vendit.

Bis auf das allerlezte Wort erwarten wir noch immer ganz etwas anders, als wir finden. Noch immer denken wir uns den Sanktra als einen leckern Fresser, der nie genug hat: auf einmal wendet sich die Medaille, und wir finden, daß der leckere Fresser ein armer Teufel ist, der nicht darum die schmuzigsten Broden so gierig zusammenraffte, um noch eine Mahlzeit davon zu halten, sondern um sie zu verkaufen, und sich andere Bedürfnisse des Lebens dafür anzuschaffen. Denn daß dieses schon gewissermaßen in dem Worte miserius des ersten Verses stecke, das hatten wir längst wieder vergessen, wenn wir es auch ja hätten merken können. Wie häufig die Epigrammatisten, aller Zeiten und Völker, aus dieser Quelle geschöpft haben, darf ich nicht erst sagen. Ich will sie aber darum doch nicht mit meinen, sondern lieber mit den Worten des Cicero 2 Scitis esse notissimum ridiculi genus, empfehlen:

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1 Lib. VII. ep. 19.

2 de Oratore lib. II. c. 63.

cum aliud expectamus, aliud dicitur. Hic nobismetipsis noster error risum movet.

2. Cicero-sept hinzu: Quod si admixtum est etiam ambiguum, fit salsius. Und das wäre die zweite Gattung. Denn es ist allerdings eine wichtige Erforderniß des Zweideutigen, daß es so wenig als möglich vorher gesehen werde. Was aber die Zweideutigkeit überhaupt sey, brauche ich nicht zu erklären: eben so wenig, als ich nöthig habe, Beispiele davon anzuführen. Aber gut ist es, gewisse allzu eckle Richter von Zeit zu Zeit zu erinnern, daß sie uns doch lieber das Lachen nicht so schwer und selten machen wollen. Zwar auch das heißt ihnen schon zu viel zugegeben; die Zweideutigkeit ist nicht bloß gut zum Lachen, zum bloßen risu diducere rictum: sie kann sehr oft die Seele des feinsten Scherzes seyn, und dem Ernste selbst Anmuth ertheilen. Ex ambiguo dicta, sagt ebenfalls Cicero, vel argutissima putantur, sed non semper in joco, saepe etiam in gravitate versantur. Denn wenn die Zweideutigkeit etwas mehr als ein kahles Wortspiel ist, so ist von dem doppelten Sinne, den sie hat, der eine wenig stens wahr, und der andere, wenn er falsch ist, diente bloß zum Uebergange auf jenen. Und was dient uns in der Folge unserer Ideen nicht alles, um von einer auf die andere überzugehen! Wir lassen uns von der Aehnlichkeit der Worte wohl in wichtigen Dingen leiten, und wollten bei einem Scherze nicht damit vorlieb nehmen? - Doch was läßt sich hiervon sagen, was nicht schon hundertmal gesagt wäre?

Ich schließe also diese allgemeinen Anmerkungen über das Epigramm; und da ich einmal in Anführung des Cicero bin, so schließe ich sie mit einer Stelle aus ihm, die ihnen statt eines Passes bei denjenigen Lesern dienen kann, welche dergleichen Untersuchungen über Werke des Wipes insgesammt nicht lieben, und ihnen kühnlich allen Nugen absprechen, weil sie einen insbesondere nicht haben können. 1 Ego in his praeceptis hanc vim, et hanc utilitatem esse arbitror, non ut ad reperiendum, quid dicamus, arte ducamur, sed ut ea, quae natura, quae studio, quae exercitatione consequimur, aut recta esse confidamus, aut prava intelligamus, cum, quo referenda sint, didicerimus.

II.

Catull. •(1.)

Es kommen unter den kleinern Gedichten des Catulls allerdings verschiedene vor, welche den völligen Gang des Sinngedichts haben.

Allein darum alle seine kleinern Gedichte zu Epigrammen zu machen, da er selbst diesen Namen ihnen nicht 11. c. cap. 57.

gegeben; von ihnen, ohne Unterschied, eine besondere Gattung des Epigramms zu abstrahiren, und es als ein Problem aufzuwerfen, ob diese catullische, wie man sie nennt, feinere Gattung, der martialijchen spizfindigen Gattung nicht weit vorzuziehen sey: das ist mir immer sehr sonderbar vorgekommen.

Die allermeisten von den kürzern Gedichten des Catulls haben schlechterdings mit dem Sinngedichte nichts gemein, als die Kürze. Es sind kleine giftige oder obscöne Tiraden, die weder Erwartung erwecken, noch Erwartung befriedigen; die mehr, um gegenwärtige dringende Empfindungen zu äußern, hingeworfen, als mit Absicht auf eine besondere Dichtungsart ausgearbeitet sind. Wer z. E. ein Salve, nec minimo puella naso, 1 ein Disertissime Romuli nepotum, ein Caeli, Lesbia nostra, Lesbia illa, 3 für Sinngedichte halten kann: der muß Lust haben, selbst auf die wohlfeilste Art ein epigrammatischer Dichter werden zu wollen. Sogar sind die nie genug gepriesenen kleinen Stücke, dergleichen ad Phasellum, de passere mortuo Lesbiae, und andere, die so unzähligmal nachgeahmt und überseßt worden, dennoch nichts weniger als Sinngedichte. Aber ich gebe es zu, daß sie etwas besseres sind, und ich wüßte gar nicht, warum z. E. lepteres, auf den todten Sperling seiner Lesbia, welches jest unter uns durch eine vortreffliche Uebersezung und durch eine eben so glückliche Nachahmung in aller Munde ist, ein Epigramm heißen müßte, da es die schönste Naenia ihrer Art ist, die uns aus dem Alterthume übrig geblieben.

Wenn aber dem ungeachtet sich Martial nach dem Catull soll gebildet haben; wenn er selbst ihn für seinen einzigen Meister erkennt: 4 so ist dieses entweder nur von dem naiven Ausdrucke und andern allgemeinen Eigenschaf-| ten des Dichters, oder doch nur von der geringsten Anzahl der kleinern catullischen Gedichte zu verstehen, von welchen es allein möglich war, daß Martial sein Jdeal des Sinngedichts abstrahirt haben konnte. Von solchen z. E. 5

De Lesbia.

Lesbia mi dicit semper male, nec tacet unquam
De me: Lesbia me, dispeream, nisi amat.
Quo signo? quasi non totidem mox deprecor illi
Assidue: verum dispeream, nisi amo.

Ad Calvum de Quintilia.

Si quicquam mutis gratum acceptumve sepulchris
Accidere a nostro, Calve, dolore potest,
Quo desiderio veteres renovamus amores,
Atque olim missas flemus amicitias:

1 Carmen 44.

2 Carmen 50.

3 Carmen 59.

* Lib. X. ep. 78.

Sic inter veteres legar Poetas,
Nec multos mihi praeferas priores,
Uno sed tibi sim minor Catullo.

5 Carmen 92. 95 et 105.

Certe non tanto mors immatura dolori est
Quintiliae, quantum gaudet amore tuo.
De puero et praecone.

Cum puero bello praeconem qui videt esse, Quid credat, nisi se vendere discupere? Denn wer erkennt in diesen nicht die völlige Einrichtung des Martials? Und nur auf diese, wie es der Rhetor nennen würde, enthymematische Einrichtung kömmt es an, ob etwas ein Sinngedicht heißen kann: nicht aber auf die bloße Spiße des Schlusses, die bald mehr, bald weniger zugeschliffen seyn kann, so wie sie es auch wirklich bei dem Martial selbst ist.

(2.)

Ich getraute mir, wegen dieses Urtheils über die kleinern Gedichte des Catulls, mit einem Naugerius selbst fertig zu werden.

Denn so ein großer Verehrer des Catulls Naugerius auch immer mag gewesen seyn: so ist doch gewiß, daß er den Martial eben so wenig wegen der Unzüchtigkeit, als wegen der ihm eigenthümlichen Einrichtung des Sinngedichts jährlich verbrannt hat. Jenes möchte uns Toskanus lieber bereden: aber wen hätte Naugerius sodann dem unzüchtigen Martial vorgezogen? Einen noch unzüchtigern Catull. Dieses hingegen kann darum nicht seyn, weil wirklich die eigenen Epigramme des Naugerius in ihrer Einrichtung den Epigrammen des Martial weit näher kommen, als den kleinen Gedichten des Catulls; welches bereits Vavassor, und noch ein Gelehrter, 1 obschon nur an dem einzigen auf die Bildsäule des Pythagoras, das ich oben angeführt habe, nicht ohne Verwunderung bemerkten. Aber warum diese Verwunderung? Es war dem Naugerius, wie gesagt, weder um die Sittlichkeit, noch um eine gewisse Einfalt, die sich mit dem zugespißten Wiße nicht wohl verträgt, zu thun; welches auch daher schon erhellt, weil er, nach dem Riccius, 2 die Priapeia allen andern Epigrammen dieser Art weit vorgezogen. Sondern er sah lediglich auf die Sprache, die sich in dem Martial viel zu weit von der Reinigkeit und dem vollen männlichen Gange des ciceronischen Zeitalters entferne. Wir wissen, was für ein Eiferer für die Sprache dieses Zeitalters er war; er, dem Politian und Erasmus viel zu barbarisch schrieben. Wenn er also ja die zugespißten Schlußfälle des Martials zugleich mit verwarf, so geschah es doch gewiß nur in so weit, als eben sie es sind, die von jener Lauterkeit sich zu entfernen, und jenem reichen Flusse von Worten zu entsagen, am ersten verleiten. Denn die nämlichen Schlußfälle, sobald sie nur einer altrömischern Diction fähig waren, mißfielen ihm gar nicht. Man sebe das zwölfte, das siebzehnte, das zweiundvierzigste seiner Gedichte, in der Ausgabe der Vulpii. Das leztere ist auf 1 Remarques sur les Réflexions du P. Rapin, p 699. Op. Vavassoris. Observationes miscellaneae in Auctores v. et n. Vol. II. T. II. p. 208.

2 Barthol. Riccius de Imitatione lib. I.

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