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einer Stelle des Plinius, die meine Verbesserung nicht erwartet haben sollte, so offenbar verfälscht oder verstümmelt ist sie. 1

III.

Aber, wie schon gedacht, die Kunst hat in den neuern Zeiten ungleich weitere Gränzen erhalten. Ihre Nach ahmung, sagt man, erstrecke sich auf die ganze sichtbare Natur, von welcher das Schöne nur ein kleiner Theil ist. Wahrheit und Ausdruck sey ihr erstes Geseß; und wie die Natur selbst die Schönheit höhern Absichten jederzeit aufopfere, so müsse sie auch der Künstler seiner allgemeinen Bestimmung unterordnen, und ihr nicht weiter nachgehen, als es Wahrheit und Ausdruck erlauben. Genug, daß durch Wahrheit und Ausdruck das Häßlichste der Natur in ein Schönes der Kunst verwandelt werde.

Gefeßt, man wollte diese Begriffe fürs erste unbestritten in ihrem Werthe oder Unwerthe lassen: sollten nicht andere von ihnen unabhängige Betrachtungen zu machen seyn, warum dem ungeachtet der Künstler in dem Ausdrucke Maaß halten, und ihn nie aus dem höchsten Puncte der Handlung nehmen müsse.

Ich glaube, der einzige Augenblick, an den die materiellen Schranken der Kunst alle ihre Nachahmungen binden, wird auf dergleichen Betrachtungen leiten.

Kann der Künstler von der immer veränderlichen Natur nie mehr als einen einzigen Augenblid, und der Maler insbesondere diesen einzigen Augenblick auch nur aus einem einzigen Gesichtspuncte brauchen; sind aber ihre Werke gemacht, nicht blos erblickt, sondern betrachtet zu werden, lange und wiederholtermaßen betrachtet zu werden so ist es gewiß, daß jener einzige Augenblick und einzige Gesichtspunct dieses einzigen Augenblickes nicht fruchtbar genug gewählt werden kann. Dasjenige aber nur allein ist fruchtbar, was der Einbildungskraft freies Spiel läßt. Je mehr wir sehen, desto mehr müssen wir hinzu denken können. Je mehr wir dazu denken, desto mehr müssen wir zu sehen glauben. In dem ganzen Verfolge eines Affects ist aber kein Augenblick, der diesen Vortheil weniger hat, als die höchste Staffel desselben. Ueber ihr ist weiter nichts,

Eundem, nämlich den Myro, liest man bei dem Plinius, (libr. XXXIV. sect. 19.) vicit et Pythagoras Leontinus, qui fecit stadiodromon Astylon, qui Olympiae ostenditur: et Libyn puerum tenentem tabulum, eodem loco, et mala ferentem nudum. Syracusis autem claudicantem: cujus hulceris dolorem sentire etiam spectantes videntur. Man erwäge die leßten Worte etwas genauer. Bird nicht darin offenbar von einer Person gesprochen, die wegen eines schmerzhaften Geschwürs überall bekannt ist? Cujus hulceris u. f. t. Und dieses cujus sollte auf das bloße claudicantem und bas claudicantem vielleicht auf das noch entferntere puerum gehen? Niemand hatte mehr Recht, wegen eines solchen Geschwürs bekannter zu seyn als Philoktet. Ich lese also anstatt claudicantem, Philoctetem oder halte wenigstens dafür, daß das leştere durch das erstere gleichlautende Wort verdrungen worden, und man beides zusammen Philoctetem claudicantem lesen müsse. Sophokles läßt ihn çıßor κατ ̓ ἀναγκαν έρπειν, unb es mufte ein ginten verurfaden, bab er auf den franken Fuß weniger herzhaft auftreten konnte.

und dem Auge das Aeußerste zeigen, heißt der Phantasie die Flügel binden, und sie nöthigen, da sie über den finn lichen Eindruck nicht hinaus kann, sich unter ihm mit schwä chern Bildern zu beschäftigen, über die sie die sichtbare Fülle des Ausdrucks als ihre Gränze scheuet. Wenn Laokoon also seufzet, so kann ihn die Einbildungskraft schreien hören; wenn er aber schreit, so kann sie von dieser Vorstellung weder eine Stufe höher, noch eine Stufe tiefer steigen, ohne ibn in einem leidlichern, folglich uninteressantern Zustande zu erblicken. Sie hört ihn erst ächzen, oder sie sieht ihn schon todt.

Ferner. Erhält dieser einzige Augenblick durch die Kunst eine unveränderliche Dauer, so muß er nichts ausdrücken, was sich nicht anders als transitorisch denken läßt. Alle Erscheinungen, zu deren Wesen wir es nach unsern Begriffen rechnen, daß sie plößlich ausbrechen und plöglich verschwinden, daß sie das, was sie sind, nur einen Augenblic seyn können; alle solche Erscheinungen, fie mögen an=" genehm oder schrecklich seyn, erhalten durch die Verlängerung der Kunst ein so widernatürliches Ansehen, daß mit jeder wiederholten Erblickung der Eindruck schwächer wird, und uns endlich vor dem ganzen Gegenstande ekelt oder graut. La Mettrie, der sich als einen zweiten Demokrit malen und stechen lassen, lacht nur die erstenmale, die man ihn sieht. Betrachtet ihn öfter, und er wird aus einem Philosophen ein Ged, aus seinem Lachen wird ein Grinsen. So auch mit dem Schreien. Der heftige Schmerz, welcher das Schreien auspreßt, läßt entweder bald nach, oder zerstört das leidende Subject. Wenn also auch der geduldigste standhafteste Mann schreit, so schreit er doch nicht unabläßlich. Und nur dieses scheinbare unabläßliche in der materiellen Nachahmung der Kunst ist es, was sein Schreien zu weibischem Unvermögen, zu kindlicher Unleidlichkeit machen würde. Dieses wenigstens mußte der Künstler des Laokoons vermeiden, hätte schon das Schreien der Schönheit nicht geschadet, wäre es auch seiner Kunst schon erlaubt gewesen, Leiden und Schönheit auszudrücken.

Unter den alten Malern scheint Timomachus Vorwürfe des äußersten Affects am liebsten gewählt zu haben. Sein rasender Ajax, seine Kindermörderin Medea, waren be rühmte Gemälde. Aber aus den Beschreibungen, die wir von ihnen haben, erhellt, daß er jenen Punct, in welchem der Betrachter das Aeußerste nicht sowohl erblickt, als hinzu denkt, jene Erscheinung, mit der wir den Begriff des Tran fitorischen nicht so nothwendig verbinden, daß uns die Ver längerung derselben in der Kunst mißfallen sollte, vortreff lich verstanden und mit einander zu verbinden gewußt hat. Die Medca hatte er nicht in dem Augenblicke genommen, in welchem sie ihre Kinder wirklich ermordet; sondern einige Augenblicke zuvor, da die mütterliche Liebe noch mit der Eifersucht kämpft. Wir sehen das Ende dieses Kampfes voraus. Wir zittern voraus, nun bald bloß die grausame Medea zu erblicken, und unsere Einbildungskraft geht weit

über alles hinweg, was uns der Maler in diesem schrecklichen
Augenblicke zeigen könnte. Aber eben darum beleidigt❘
uns die in der Kunst fortdauernde Unentschloffenheit der
Medea so wenig, daß wir vielmehr wünschen, es wäre in
der Natur selbst dabei geblieben, der Streit der Leiden:
schaften hätte sich nie entschieden, oder hätte wenigstens so
lange angehalten, bis Zeit und Ueberlegung die Wuth ent-
kräften und den mütterlichen Empfindungen den Sieg ver:
sichern können. Auch hat dem Timomachus diese seine
Weisheit große und häufige Lobsprüche zugezogen, und ihn |
weit über einen andern unbekannten Maler erhoben, der
unverständig genug gewesen war, die Medea in ihrer höch❘
sten Raserei zu zeigen, und so diesem flüchtig überhingehen-
den Grade der äußersten Raserei eine Dauer zu geben, die
alle Natur empört. Der Dichter, 1 der ihn deßfalls tadelt,
sagt daher sehr sinnreich, indem er das Bild selbst anredet:
,,Durstest du denn beständig nach dem Blute deiner Kinder?
`„Jst denn immer ein neuer Jason, immer eine neue Creusa
,,da, die dich unaufhörlich erbittern? Zum Henker mit
,,dir auch im Gemälde!" sezt er voller Verdruß hinzu.

"

1

Von dem rasenden Ajax des Timomachus läßt sich aus der Nachricht des Philostrats urtheilen. 2 Ajax erschien nicht wie er unter den Heerden wüthet, und Rinder und Böcke für Menschen fesselt und mordet. Sondern der Meister zeigte ihn, wie er nach diesen wahnwißigen Heldentha ten ermattet dasißt, und den Anschlag faßt, sich selbst umzubringen. Und das ist wirklich der rasende Ajar, nicht weil er eben jezt raset, sondern weil man sieht, daß er ge raset hat; weil man die Größe seiner Raserei am lebhaf testen aus der verzweiflungsvollen Scham abnimmt, die er nun selbst darüber empfindet. Man sieht den Sturm in den Trümmern und Leichen, die er an das Land geworfen.

IV.

Ich übersehe die angeführten Ursachen, warum der Meister des Laokoon in dem Ausdrucke des körperlichen Schmerzes Maaß halten müssen, und finde, daß sie allefammt von der eigenen Beschaffenheit der Kunst, und von derselben nothwendigen Schranken und Bedürfnissen hergenommen sind. Schwerlich dürfte sich also wohl irgend eine derselben auf die Poesie anwenden lassen.

Ohne hier zu untersuchen, wie weit es dem Dichter gelingen kann, körperliche Schönheit zu schildern, so ist so viel unstreitig, daß, da das ganze unermeßliche Reich der Vollkommenheit seiner Nachahmung offen steht, diese sicht bare Hülle, unter welcher Vollkommenheit zu Schönheit wird, nur eines von den geringsten Mitteln seyn kann, durch die er uns für seine Personen zu interessiren weiß. Oft vernachlässigt er dieses Mittel gänzlich, versichert, daß

1 Philippus (Anthol. lib. IV. cap. 9. ep. 10.)
Διει γαρ διψας βρεφέων φονον. ή τις Ιήσων
Δεύτερος, ἡ Γλαυκη τις παλι σοι πρόφασις,
Είδε και εν κηρο παιδοκτονε

2 Vita Apoll. lib. II. cap. 22.

wenn sein Held unsere Gewogenheit gewonnen, uns dessen edlere Eigenschaften entweder so beschäftigen, daß wir an die körperliche Gestalt gar nicht denken, oder, wenn wir daran denken, uns so bestechen, daß wir ihm von selbst wo nicht eine schöne, doch eine gleichgültige ertheilen. Am wenigsten wird er bei jedem einzelnen Zuge, der nicht ausdrücklich für das Gesicht bestimmt ist, seine Rücksicht dennoch auf diesen Sinn nehmen dürfen. Wenn Virgils Laokoon schreit, wem fällt es dabei ein, daß ein großes Maul zum Schreien nöthig ist, und daß dieses große Maul häßlich läßt? Genug, daß clamores horrendos ad sidera tollit ein erhabener Zug für das Gehör ist, mag er doch für das Gesicht seyn, was er will. Wer hier ein schönes Bild verlangt, auf den hat der Dichter seinen ganzen Eindruck verfehlt.

Nichts nöthigt hiernächst den Dichter, sein Gemälde in einen einzigen Augenblick zu concentriren. Er nimmt jede seiner Handlungen, wenn er will, bei ihrem Ursprunge auf, und führt sie durch alle mögliche Abänderungen bis zu ihrer Endschaft. Jede dieser Abänderungen, die dem Künstler ein ganzes besonderes Stück kosten würde, kostet ihm einen einzigen Zug; und würde dieser Zug, für sich betrachtet, die Einbildung des Zuhörers beleidigen, so war er entweder durch das Vorhergehende so vorbereitet, oder wird durch das Folgende so gemildert und vergütet, daß er seinen einzelnen Eindruck verliert und in der Verbindung die trefflichste Wirkung von der Welt thut. Wäre es also auch wirklich einem Manne unanständig, in der Heftigkeit des Schmerzes zu schreien; was kann diese kleine überhingehende Unanständigkeit demjenigen bei uns für Nachtheil bringen, dessen andere Tugenden uns schon für ihn eingenommen haben? Virgils Laokoon schreit, aber dieser | schreiende Laokoon ist eben derjenige, den wir bereits als den vorsichtigsten Patrioten, als den wärmsten Vater kennen und lieben. Wir beziehen sein Schreien nicht auf seinen Charakter, sondern lediglich auf sein unerträgliches Leiden. Dieses allein hören wir in seinem Schreien, und der Dichter konnte es uns durch dieses Schreien allein sinnlich machen.

Wer tadelt ihn also noch? Wer muß nicht vielmehr bekennen: wenn der Künstler wohl that, daß er den Laokoon nicht schreien ließ, so that der Dichter eben so wohl, daß er ihn schreien ließ?

Aber Virgil ist hier bloß ein erzählender Dichter. Wird in seiner Rechtfertigung auch der dramatische Dichter mit begriffen seyn? Einen andern Eindruck macht die Erzählung von jemands Geschrei; einen andern dieses Geschrei selbst. Das Drama, welches für die lebendige Malerei des Schauspielers bestimmt ist, dürfte vielleicht eben deßwegen sich an die Geseße der materiellen Malerei strenger halten müssen. In ihm glauben wir nicht bloß einen schreienden Philoktet zu sehen und zu hören; wir hören und sehen wirklich schreien. Je näher der Schauspieler der Natur kommt, desto empfindlicher müssen unsere Augen und Ohren beleidigt

Pfeile eines Trojaners verwundet seyn. Was kann man sich von einem so gewöhnlichen Zufalle außerordentliches versprechen? Ihm war in den alten Kriegen ein jeder ausgesezt; wie kam es, daß er nur bei dem Philoktet so schreckfiche Folgen hatte? Ein natürliches Gift, das neun ganzer Jahre wirkt ohne zu tödten, ist noch dazu weit unwahrscheinlicher, als alles das fabelhafte Wunderbare, womit es der Grieche ausgerüstet hat.

werden; denn es ist unwidersprechlich, daß sie es in der l'atur werden, wenn wir so laute und heftige Aeußerungen des Schmerzes vernehmen. Zudem ist der körper: liche Schmerz überhaupt des Mitleidens nicht fähig, wel ches andere Uebel erwecken. Unsere Einbildung kann zu wenig in ihm unterscheiden, als daß die bloße Erblickung desselben etwas von einem gleichmäßigen Gefühl in uns hervor zu bringen vermöchte. Sophokles könnte daher leicht nicht einen bloß willkürlichen, sondern in dem Wesen unserer Empfindungen selbst gegründeten Anstand übertreten haben, wenn er den Philoktet und Herkules so winseln und weinen, so schreien und brüllen läßt. Die Umstehenden können unmöglich so viel Antheil an ihrem Leiden nehmen, als diese ungemäßigten Ausbrüche zu erfordern scheinen.❘ Sie werden uns Zuschauern vergleichungsweise kalt vor: kommen, und dennoch können wir ihr Mitleiden nicht wohl anders als wie das Maaß des unsrigen betrachten. Hierzu füge man, daß der Schauspieler die Vorstellung des körperschaft, Hunger und alle Unbequemlichkeiten des Lebens, lichen Schmerzes schwerlich oder gar nicht bis zur Illusion treiben kann; und wer weiß, ob die neuern dramatischen Dichter nicht eher zu loben als zu tadeln sind, daß sie diese Klippe entweder ganz und gar vermieden, oder doch nur mit einem leichten Kahne umfahren haben.

Wie manches würde in der Theorie unwidersprechlich scheinen, wenn es dem Genie nicht gelungen wäre, das Widerspiel durch die That zu erweisen. Alle diese Betrach tungen sind nicht ungegründet, und doch bleibt Philoktet eines von den Meisterstücken der Bühne. Denn ein Theil derselben trifft den Sophokles nicht eigentlich, und nur indem er sich über den andern Theil hinwegseßt, hat er Schönheiten erreicht, von welchen dem furchtsamen Kunstrichter ohne dieses Beispiel nie träumen würde. Folgende Anmerkungen werden es näher zeigen.

1. Wie wunderbar hat der Dichter die Idee des körperlichen Schmerzes zu verstärken und zu erweitern gewußt! Er wählte eine Wunde (denn auch die Umstände der Ge schichte kann man betrachten, als ob sie von seiner Wahl abgehangen hätten, in so fern er nämlich die ganze Geschichte, eben dieser ihm vortheilhaften Umstände wegen, wählte) – er wählte, sage ich, eine Wunde und nicht eine innerliche Krankheit, weil sich von jener eine lebhaftere Vorstellung machen läßt, als von dieser, wenn sie auch noch so schmerzlich ist. Die innere sympathetische Gluth, welche den Meleager verzehrte, als ihn seine Mutter in dem fatalen Brande ihrer schwesterlichen Wuth aufopferte, würde daher weniger theatralisch seyn, als eine Wunde. Und diese Wunde war ein göttliches Strafgericht. Ein mehr als natürliches Gift tobte unaufhörlich darin, und nur ein stär: ferer Anfall von Schmerzen hatte seine gefeßte Zeit, nach welchem jedesmal der Unglückliche in einen betäubenden Schlaf verfiel, in welchem sich seine erschöpfte Natur erholen mußte, den nämlichen Weg des Leidens wieder antreten zu können. Chataubrun läßt ihn bloß von dem vergifteten

2. So groß und schwerlich er aber auch die körperlichen Schmerzen seines Helden machte, so fühlte er es doch sehr wohl, daß sie allein nicht hinreichend wären, einen merk lichen Grad des Mitleids zu erregen. Er verband sie daher mit andern Uebeln, die gleichfalls für sich betrachtet nicht besonders rühren konnten, die aber durch diese Verbindung einen eben so melancholischen Anstrich erhielten, als sie den körperlichen Schmerzen hinwiederum mittheilten. Diese Uebel waren völlige Beraubung der menschlichen Gesell

welchen man unter einem rauhen Himmel in jener Beraubung ausgesezt ist. 1 Man denke sich einen Menschen in

1 Wenn der Chor das Elend des Philoktet in dieser Verbindung betrachtet, so scheint ihn die hülflose Einsamkeit desselben ganz beson ders zu rühren. In jedem Worte hören wir den geselligen Griechen. Ueber eine von den hierher gehörigen Stellen habe ich indeß meinen Zweifel. Sie ist die: (v. 201-205.). ν' αὐτος ἦν προσουρος,

Οὐδε τιν ἐγχωρων.

οὐκ ἔχων βασιν.

Κακογειτονα παρ ᾧ ςονον ἀντιτύπων
Βαρυβρωτ' ἀποκλαν

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diesen Umständen, man gebe ihm aber Gesundheit, und Kräfte, und Industrie, und es ist ein Robinson Crusoe, der auf unser Mitleid wenig Anspruch macht, ob uns gleich sein Schicksal sonst gar nicht gleichgültig ist. Denn wir sind selten mit der menschlichen Gesellschaft so zufrieden, daß uns die Ruhe, die wir außer derselben genießen, nicht sehr reizend dünken sollte, besonders unter der Vorstellung, welche jedes Individuum schmeichelt, daß es fremden Beistandes nach und nach kann entbehren lernen. Auf der andern Seite gebe man einem Menschen die schmerzlichste unheilbarste Krankheit, aber man denke ihn zugleich von gefälligen Freunden umgeben, die ihn an nichts Mangel leiden lassen, die sein Uebel, so viel in ihren Kräften steht, erleichtern, gegen die er unverhohlen klagen und jammern darf: unstreitig werden wir Mitleid mit ihm haben, aber dieses Mitleid dauert nicht in die Länge, endlich zucken wir These Ruffians left me - yet believe me, Arcas, Such is the rooted love we bear mankind All ruffians as they were, I never heard A sound so dismal as their parting oars. Auch ihm wäre die Gesellschaft von Bösewichtern lieber gewesen, als gar teine. Ein großer vortrefflicher Sinn! Wenn es nur gewiß wäre, daß Sophokles auch wirklich so etwas gesagt hätte. Aber ich muß ungern bekennen, daß ich nichts dergleichen bei ihm finde; es wäre denn, daß ich lieber mit den Augen des alten Scholiaften, als mit meinen eigenen sehen wollte, welcher die Worte des Dichters so um{φτείbt: Οὐ μόνον ὅπου καλον οὐκ εἶχε τινα των εγχώριων γειτονα, άλλα ούδε κακον, παρ' οὗ ἀμοιβαιον λόγον ξενάζων azovasie. Wie dieser Auslegung die angeführten Uebersezer gefolgt find, so hat sich auch eben sowohl Brumoh, als unser neuer deutscher Ueberseger daran gehalten. Jener sagt: sans société, même importune; und dieser: „jeder Gesellschaft, auch der beschwerlichsten beraubt." Meine Gründe, warum ich von ihnen allen abgehen muß, find diefe: Erstlich ist es offenbar, daß wenn zazoɣsırava von Tir' Byxor getrennt werden, und ein besonderes Glied ausmachen sollte, die Partikel oude vor zaxoyectora nothwendig wiederholt seyn müßte. Da sie es aber nicht ist, so ist es eben so offenbar, daß zazoɣeitora zu Tira gehört, und das Komma nach syzmowy wegfallen muß. Dieses Komma hat sich aus der Ueberseßung eingeschlichen, wie ich denn wirklich finde, daß es einige ganz griechische Ausgaben (3. E. die Wittenbergische von 1585 in 8., welche dem Fabricius völlig unbekannt geblieben) auch gar nicht haben, und es erst, wie gehörig, nach zazoɣɛtora sezen. Zweitens, ist das wohl ein böser Nachbar, bon sem vir uns soror ἀντίτυπον, ἀμοιβαιον wie es ber Goliaft erklärt, versprechen können? Wechselsweise mit uns seufzen, ist die Eigenschaft eines Freundes, nicht aber eines Feindes. Kurz also, man hat das Wort zuzoɣsırova unrecht verstanden; man hat angenommen, daß es aus dem Adjectiv zazo; zusammengesezt seh, und es ist aus dem Substantiv ro zazor zusammengesezt; man hat es durch einen bösen Nachbar erklärt, und hätte es durch einen Nachbar des Bösen erklären sollen. So wie zazouarrie nicht einen bösen, das ist, falschen, unwahren Propheten, sondern einen Propheten des Böfen, zazors gros nicht einen bösen, ungeschickten Künstler, sondern einen Künstler im Bösen bedeuten. Unter einem Nachbar des Bösen versteht der Dichter aber denjenigen, welcher entweder mit gleichen Unfällen als wir behaftet ist, oder aus Freundschaft an unseren Unfällen Antheil nimmt, so daß die ganzen Worte ov'è yon ti èy7000 zazoɣeitora bloß durch neque quenquam indigenarum mali socium habens zu übersehen sind. Der neue englische Ueberseher des Sophokles, Thomas Franklin, kann nicht anders als meiner Meinung gewesen seyn, indem er den bösen Nachbar in zazoɣELT WV auch nicht findet, sondern es bloß durch fellow-mourner überseßt: Expos'd to the inclement skies, Deserted and forlorn he lyes,

No friend nor fellow-mourner there,

To sooth his sorrow and divide his care.

die Achsel und verweisen ihn zur Geduld. Nur wenn beide Fälle zusammen kommen, wenn der Einsame auch seines Körpers nicht mächtig ist, wenn dem Kranken eben so wenig jemand anders hilft, als er sich selbst helfen kann, und seine Klagen in der öden Luft verfliegen: alsdann sehen wir alles Elend, was die menschliche Natur treffen kann, über den Unglücklichen zusammenschlagen, und jeder flüchtige Gedanke, mit dem wir uns an seiner Stelle denken, erregt Schaudern und Entseßen. Wir erblicken nichts als die Verzweiflung in ihrer schrecklichsten Gestalt vor uns, und kein Mitleid ist stärker, keines zerschmelzt mehr die ganze Seele, als das, welches sich mit Vorstellungen der Verzweiflung mischt. Von dieser Art ist das Mitleid, wel ches wir für den Philoktet empfinden, und in dem Augenblicke am stärksten empfinden, wenn wir ihn auch seines Bogens beraubt sehen, des einzigen, was ihm sein fümmer: liches Leben erhalten mußte. — O des Franzosen, der keinen Verstand, dieses zu überlegen, kein Herz, dieses zu fühlen, gehabt hat! Oder wenn er es gehabt hat, der klein genug war, dem armseligen Geschmacke seiner Nation alles dieses aufzuopfern. Chataubrun giebt dem Philoktet Gesellschaft. Er läßt eine Prinzessin Tochter zu ihm in die wüste Insel kommen. Und auch diese ist nicht allein, sondern hat ihre Hofmeisterin bei sich; cin Ding, von dem ich nicht weiß, ob es die Prinzessin oder der Dichter nöthiger gebraucht hat. Das ganze vortreffliche Spiel mit dem Bogen bat er weggelassen. Dafür läßt er schöne Augen spielen. Freilich würden Pfeil und Bogen der französischen Heldenjugend sehr lustig vorgekommen seyn. Nichts hingegen ist ernsthafter als der Zorn schöner Augen. Der Grieche martert uns mit der gräulichen Besorgung, der arme Philoktet werde ohne seinen Bogen auf der wüsten Insel bleiben und elendiglich umkommen müssen. Der Franzose weiß einen gewissern Weg zu unsern Herzen: er läßt uns fürchten, der Sohn des Achilles werde ohne seine Prinzessin abziehen müssen. Dieses hießen denn auch die Pariser Kunstrichter über die Alten triumphiren, und einer schlug vor, das Chataubrunsche Stück la Difficulté vaincue zu benennen. 1

3. Nach der Wirkung des Ganzen betrachte man die einzelnen Scenen, in welchen Philoftet nicht mehr der verlassene Krante ist; wo er Hoffnung hat, nun bald die trøstlose Einöde zu verlassen und wieder in sein Reich zu gelangen; wo sich also sein ganzes Unglück auf die schmerzliche Wunde einschränkt. Er wimmert, er schreit, er bekommt die gräßlichsten Zudungen. Hierwider geht eigentlich der Einwurf des beleidigten Anstandes. Es ist ein Engländer, welcher diesen Einwurf macht; ein Mann also, bei welchem man nicht eine falsche Delicatesse argwohnen darf. Wie schon berührt, so giebt er ihm auch einen sehr guten Grund. Alle Empfindungen und Leidenschaften, sagt er, mit welchen andere nur sehr wenig sympathisiren können, werden 1 Mercure de France, Avril 1755. p. 177.

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anstößig, wenn man sie zu heftig ausdrückt. 1„Aus diesem „Grunde ist nichts unanständiger und einem Manne un„würdiger, als wenn er den Schmerz, auch den allerhef,,tigsten, nicht mit Geduld ertragen kann, sondern weint „und schreit. Zwar giebt es eine Sympathie mit dem ,, törperlichen Schmerze. Wenn wir sehen, daß jemand einen „Schlag auf den Arm oder das Schienbein bekommen soll, io fahren wir natürlicherweise zusammen, und ziehen. „unsern eigenen Arm oder Schienbein zurück; und wenn ,,der Schlag wirklich geschieht, so empfinden wir ihn gewissermaßen eben so wohl, als der, den er getroffen. Gleichwohl aber ist es gewiß, daß das Uebel, welches wir „fühlen, gar nicht beträchtlich ist; wenn der Geschlagene „daher ein heftiges Geschrei erregt, so ermangeln wir nicht, „ihn zu verachten, weil wir in der Verfassung nicht sind, „eben so heftig schreien zu können, als er.“ Nichts ist betrüglicher als allgemeine Geseze für unsere Empfin dungen. Ihr Gewebe ist so fein und verwickelt, daß es auch der behutsamsten Spekulation kaum möglich ist, einen einzelnen Faden rein aufzufassen und durch alle Kreuzfäden zu verfolgen. Gelingt es ihr aber auch schon, was für Nußen hat es? Es giebt in der Natur keine einzelne reine Empfindung; mit einer jeden entstehen tausend andere zugleich, deren geringste die Grundempfindung gänzlich vers ändert, so daß Ausnahmen über Ausnahmen erwachsen, die das vermeintlich allgemeine Gesetz endlich selbst auf eine bloße Erfahrung in wenig einzelnen Fällen einschränken. Wir verachten denjenigen, sagt der Engländer, den wir unter körperlichen Schmerzen heftig schreien hören. Aber nicht immer, nicht zum erstenmale; nicht, wenn wir sehen, daß der Leidende alles mögliche anwendet, seinen Schmerz zu verbeißen; nicht, wenn wir ihn sonst als einen Mann von Standhaftigkeit kennen; noch we= niger, wenn wir ihn selbst unter den Leiden Proben seiner Standhaftigkeit ablegen sehen, wenn wir sehen, daß ihn der Schmerz zwar zum Schreien, aber auch zu weiter nichts zwingen kann, daß er sich lieber der längern Fortdauer dieses Schmerzes unterwirft, als das geringste in seiner Denkungsart, in seinen Entschlüssen ändert, ob er schon in dieser Veränderung die gänzliche Endschaft seines Schmerzes hoffen darf. Das alles findet sich bei dem Phi lottet. Die moralische Größe bestand bei den alten Griechen in einer eben so unveränderlichen Liebe gegen seine Freunde, als unwandelbarem Hasse gegen seine Feinde. Diese Größe behält Philoftet bei allen seinen Martern. Sein Schmerz bat seine Augen nicht so vertrocknet, daß sie ihm keine Thränen über das Schicksal seiner alten Freunde gewähren könnten. Sein Schmerz hat ihn so mürbe nicht gemacht, daß er, um ihn los zu werden, seinen Feinden vergeben, und sich gern zu allen ihren eigennüßigen Absichten brauchen lassen möchte. Und diesen Felsen von einem

The Theory of Moral Sentiments, by Adam Smith. Part I. sect. 2. chap. 1. p. 41. (London 1761.)

Manne hätten die Athenienser verachten sollen, weil die Wellen, die ihn nicht erschüttern können, ihn wenigstens ertönen machen? Ich bekenne, daß ich an der Philo sophie des Cicero überhaupt wenig Geschmack finde; am allerwenigsten aber an der, die er in dem zweiten Buche seiner Tusculanischen Fragen über die Erduldung des förperlichen Schmerzes austramt. Man sollte glauben, er wolle einen Gladiator abrichten, so sehr eifert er wider den äußerlichen Ausdruck des Schmerzes. In diesem scheint er allein die Ungeduld zu finden, ohne zu überlegen, daß er oft nichts weniger als freiwillig ist, die wahre Tapferkeit aber sich nur in freiwilligen Handlungen zeigen kann. Er hört bei dem Sophokles den Philoktet nur klagen und schreien, und übersieht sein übriges standhaftes Betragen gänzlich. Wo hätte er auch sonst die Gelegenheit zu seinem rhetorischen Ausfalle wider die Dichter hergenommen?

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Sie sollen uns weichlich machen, weil sie die tapfersten Männer klagend einführen." Sie müssen sie klagen lassen; denn ein Theater ist keine Arena. Dem verdammten oder feilen Fechter kam es zu, alles mit Anstand zu thun und zu leiden. Von ihm mußte kein kläglicher Laut gehört, keine schmerzliche Budung erblickt werden. Denn da seine Wuns den, sein Tod die Zuschauer ergößen sollten: so mußte die Kunst alles Gefühl verbergen lehren. Die geringste Aeußerung desselben hätte Mitleiden erweckt, und öfters erregtes Mitleiden würde diesen frostig grausamen Schauspielen bald ein Ende gemacht haben. Was aber hier nicht erregt werden sollte, ist die einzige Absicht der tragischen Bühne, und fordert daher ein gerade entgegengeseßtes Betragen. Ihre Helden müssen Gefühl zeigen, müssen ihre Schmerzen äußern und die bloße Natur in sich wirken lassen. Ver: rathen sie Abrichtung und Zwang, so lassen sie unser Herz kalt, und Klopffechter im Kothurne können höchstens nur bewundert werden. Diese Benennung verdienen alle Pers sonen der sogenannten Seneca'schen Tragödien, und ich bin der festen Meinung, daß die gladiatorischen Spiele die vornehmste Ursache gewesen, warum die Römer in dem Tragischen noch so weit unter dem Mittelmäßigen geblieben sind. Die Zuschauer lernten in dem blutigen Amphitheater alle Natur verkennen, wo allenfalls ein Ktesias seine Kunst studiren konnte, aber nimmermehr ein Sophokles. Das tragischste Genie, an diese künstlichen Todesscenen gewöhnt, mußte auf Bombast und Rodomontaden verfallen. Aber so wenig als solche Rodomontaden wahren Heldenmuth einflößen können, eben so wenig tönnen Philoktetische Klagen weichlich machen. Die Klagen sind eines Menschen, aber die Handlungen eines Helden. Beide machen den menschlichen Helden, der weder weichlich noch verhärtet ist, sondern bald dieses bald jenes scheint, so wie ihn jezt Natur, jezt Grundsäße und Pflicht verlangen. Er ist das Höchste, was die Weisheit hervorbringen und die Kunst nachahmen fann.

4. Nicht genug, daß Sophokles seinen empfindlichen

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