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§. 70.

Du hast in der Kindheit des Menschengeschlechts an der Lehre von der Einheit Gottes gesehen, daß Gott auch bloße Vernunft wahrheiten unmittelbar offenbart, oder verstattet und einleitet, daß bloße Vernunftswahrheiten als unmittelbar geoffenbarte Wahrheiten eine Zeit lang gelehrt werden, um sie geschwinder zu verbreiten, und sie fester zu gründen.

§. 71.

Du erfährst, in dem Knabenalter des Menschengeschlechts, an der Lehre von der Unsterblichkeit der Seele, das Nämliche. Sie wird in dem zweiten bessern Elementarbuche als Offenbarung gepredigt, nicht als Resultat menschlicher Schlüsse gelehrt. §. 72.

So wie wir zur Lehre von der Einheit Gottes nunmehr des Alten Testaments entbehren können, so wie wir allmählig zur Lehre von der Unsterblichkeit der Seele auch des Neuen Testaments entbehren zu können anfangen: könnten in diesem nicht noch mehr dergleichen Wahrheiten vorgespiegelt werden, die wir als Offenbarungen so lange anstaunen sollen, bis sie die Vernunft aus ihren andern ausgemachten Wahrheiten herleiten und mit ihnen verbinden lernen?

§. 73.

3. E. die Lehre von der Dreieinigkeit. Wie, wenn diese Lehre den menschlichen Verstand, nach unendlichen Verirrungen rechts und links, nur endlich auf den Weg bringen sollte, zu erkennen, daß Gott in dem Verstande, in welchem endliche Dinge eins sind, unmöglich eins seyn. könne, daß auch seine Einheit eine transcendentale Einheit seyn müsse, welche eine Art von Mehrheit nicht ausschließt? -Muß Gott wenigstens nicht die vollständigste Vorstellung von sich selbst haben? d. i. eine Vorstellung, in der sich alles befindet, was in ihm selbst ist. Würde sich aber alles in ihr finden, was in ihm selbst ist, wenn auch von seiner nothwendigen Wirklichkeit, so wie von seinen übrigen Eigenschaften sich bloß eine Vorstellung, sich bloß eine Möglichkeit fände? Diese Möglichkeit erschöpft das Wesen seiner übrigen Eigenschaften: aber auch seiner nothwendigen Wirklichkeit? Mich dünkt nicht. Folglich kann entweder Gott gar keine vollständige Vorstellung von sich selbst haben, oder diese vollständige Vorstellung ist eben so nothwendig wirklich, als er es selbst ist 2c. Freilich ist das Bild von mir im Spiegel nichts als eine leere Vorstellung von mir, weil es nur das von mir hat, wovon Lichtstrahlen auf seine Fläche fallen. Aber wenn denn nun dieses Bild alles, alles ohne Ausnahme hätte, was ich selbst habe, würde es sodann auch noch eine leere Vorstellung, oder nicht viel mehr eine wahre Verdopplung meines Selbst seyn? Wenn ich eine ähnliche Verdopplung in Gott zu erkennen glaube, so irre ich mich vielleicht nicht so wohl, als daß die Sprache meinen Begriffen unterliegt; und so viel bleibt

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Und die Lehre von der Genugthuung des Sohnes. Wie, wenn uns endlich alles nöthigte, anzunehmen, daß Gott, ungeachtet jener ursprünglichen Unvermögenheit des Menschen, ihm dennoch moralische Geseze lieber geben, und ihm alle Uebertretungen, in Rücksicht auf seinen Sohn, d. i. in Rücksicht auf den selbstständigen Umfang aller seiner Vollkommenheiten, gegen den und in dem jede Unvollkommenheit des Einzelnen verschwindet, lieber verzeihen wollen, als daß er sie ihm nicht geben, und ihn von aller morali: schen Glückseligkeit ausschließen wollen, die sich ohne mora: lische Geseze nicht denken läßt?

§. 76.

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Man wende nicht ein, daß dergleichen Vernünfteleien über die Geheimnisse der Religion untersagt sind. — Das Wort Geheimniß bedeutete in den ersten Zeiten des Christenthums ganz etwas anderes, als wir jezt darunter verstehen, und die Ausbildung geoffenbarter Wahrheiten in Vernunfts wahrheiten ist schlechterdings nothwendig, wenn dem menschlichen Geschlechte damit geholfen seyn soll. Als sie geoffenbart wurden, waren sie freilich noch keine Vernunftswahrheiten, aber sie wurden geoffenbart, um es zu werden. Sie waren gleichsam das Facit, welches der Rechenmeister seinen Schülern voraus sagt, damit sie sich im Rechnen einigermaßen darnach richten können. Wollten sich die Schüler an dem voraus gesagten Facit begnügen, so würden sie nie rechnen lernen, und die Absicht, in welcher der gute Meister ihnen bei ihrer Arbeit einen Leitfaden gab, schlecht erfüllen.

§. 77.

Und warum sollten wir nicht auch durch eine Religion, mit deren historischen Wahrheit, wenn man will, es so mißlich aussieht, gleichwohl auf nähere und bessere Begriffe vom göttlichen Wesen, von unserer Natur, von unsern Verhältnissen zu Gott, geleitet werden können, auf welche die menschliche Vernunft von selbst nimmermehr gekommen wäre?

§. 78.

Es ist nicht wahr, daß Speculationen über diese Dinge jemals Unheil gestiftet und der bürgerlichen Gesellschaft nachtheilig geworden. Nicht den Speculationen: dem Unsinne, der Tyrannei, diesen Speculationen zu steuern;

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Und eben das machte sie zu Schwärmern. Der Schwärmer thut oft sehr richtige Blicke in die Zukunft, aber er kann diese Zukunft nur nicht erwarten. Er wünscht diese Zukunft beschleunigt, und wünscht, daß sie durch ihn beschleunigt werde. Wozu sich die Natur Jahrtausende Zeit nimmt, soll in dem Augenblicke seines Daseyns reifen. Denn was er hat davon, wenn das, was er für das Bessere erkennt, nicht noch bei seinen Lebzeiten das Bessere wird? Kömmt er wieder? Glaubt er wieder zu kommen? — Son: derbar, daß diese Schwärmerei allein unter den Schwärmern nicht mehr Mode werden will!

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Briefe. 1

A Mademoiselle

Mademoiselle Lessing

ma tres cher Soeur

à Camenz.

Geliebte Schwester!

Briefe von Lessing.

Ich habe zwar an Dich geschrieben, allein Du hast nicht geantwortet. Ich muß also dencken, entweder du fanst nicht schreiben, oder Du wilst nicht schreiben. Und fast wolte ich das erste behaupten. Jedoch ich will auch das andre glauben; Du wilst nicht schreiben. Beydes ist straffbahr. Ich kann zwar nicht einsehn, wie dieses beysam men stehn kann: ein vernünfftiger Mensch zu seyn; vernünfftig reden können, und gleichwohl nicht wißen, wie man einen Brieff auffezen soll. Schreibe wie Du redeft, so schreibst Du schön. Jedoch; hätte auch das Gegentheil statt, man könte vernünfftig reden, dennoch aber nicht vernünfftig schreiben, so wäre es für Dich eine noch größere Schande, daß Du nicht einmahl so viel gelernet. Du bist zwar Deinem Lehr-Meister sehr zeitig aus der Schule gelauffen, und schon in Deinem 12 Jahre hiltest Du es vor eine Schande etwas mehres zu lernen; allein wer weiß welches die größte Schande ist? in seinem 12 Jahre noch etwas zu lernen als in seinem 18ten oder 19ten noch keinen Brieff schreiben fönnen. Schreibe ja! und benim mir diese falsche Meynung von Dir. Jm vorbeygehen muß ich doch auch an das neue Jahr gedencken. Fast jeder wünschet zu dieser Zeit gutes. Was werde ich Dir aber wünschen? Ich muß wohl was besonders haben. Ich wünsche Dir, daß Dir Dein ganzer Mammon gestohlen würde. Vielleicht würde es Dir mehr nüzen, als wenn jemand zum neuen Jahre Deinen Geld-Beutel mit einigen 100 Stück Ducaten vermehrte. Lebe wohl! Ich bin

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Daß ich Ihnen so gleich auf den leßten Brief antworte, geschiehet um des Hrn. Rectors Willen, welcher seinen Brief je eher je lieber wollte bestellet wißen. Das Lob, welches Sie mir, wegen des verfertigten poetischen Sendschreibens an den Hrn. Obrist Lievtenant von Carlowiz, unverdient ertheilet, soll mich, ob ich gleich wenig Lust habe diese Materie noch einmahl vor die Hand zu nehmen, anreizen nach Dero Verlangen ein kürzeres, und, wo es mir möglich, ein beßeres zu machen.

Zwar, Ihnen es frey zu gestehen, wenn ich die Zeit, die ich damit schon zugebracht und noch zubringen muß, überlege, so muß ich mir selbst den Vorwurff machen, daß ich sie auf eine unnüße Weise versplittert. Der beste Trost dabei ist, daß es auf Dero Befehl geschehen.

Sie betauern mit Recht das arme Meisen, welches jezo mehr einer Toden Grube als der vorigen Stadt ähnlich siehet. Alles ist voller Gestand und Unflath, und wer nicht hereinkommen muß, bleibt gerne so, weit von ihr entfernt, als er nur kan. Es liegen in denen meisten Häusern, immer noch 30 bis 40 Verwundete, zu denen sich niemand sehre nahen darff, weil alle welche nur etwas gefährlich getroffen sind, das hizige Fieber haben. Es ist eine weiße Vorsicht Gottes, daß diese fatalen Umstände die Stadt gleich im Winter getroffen, weil, wenn es Sommer wäre, gewiß in ihr die völlige Pest schon graßiren würde. Und wer weiß was noch geschiehet. Jedoch wir wollen zu Gott das beste hoffen. Es sieht aber wohl in der ganzen Stadt, in Betrachtung seiner vorigen Umstände, kein Ort erbärmlicher aus als unsere Schule. Sonst lebte alles in ihr, jezo scheint sie wie ausgestorben. Sonst war es was rares, wenn man nur einen gesunden Soldaten in ihr sahe, jezo sichet man ein Hauffen verwundete hier, von welchen wir nicht wenig Ungemach empfinden müßen. Das Coenacul ist zu einer Fleisch Band gemacht worden, und

wir sind gezwungen in dem kleinern Auditorio zu speisen. | Fleiß so närrisch machte. Doch es dauerte nicht lange, so Die Schüler, welche verreiset, haben wegen der Gefahr in Krandheiten zu verfallen eben so wenig Lust zurückzukehren, als der Schul Verwalter die drey eingezognen Tische wieder herzustellen. Was mich anbelangt, so ist es mir um so viel verdrüßlicher, hier zu seyn, da Sie sogar entschloßen zu seyn scheinen, mich auch den Sommer über, in welchem es vermuthlich zehnmal ärger seyn wird, hier zu laßen. Ich glaube wohl, die Ursache, welche Sie dazu bewogen, könnte leicht gehoben werden. Doch ich mag von einer Sache, um die ich schon so offte gebeten, und die Sie doch kurzum nicht wollen, kein Wort mehr verliehren. Ich versichere mich unterdeßen, daß Sie mein Wohl beßer einsehen werden, als ich. Und bey der Versicherung werde ich, wenn Sie auch bey der abschläglichen Antwort beharren sollten, doch, wie ich schuldig bin, noch allezeit Sie als meinen Vater zu ehren und zu lieben fortfahren. Der Ohr-Zwang, mit welchem ich seit einiger Zeit bin befallen gewesen, macht mich so wüste im Kopffe, daß ich nicht vermögend bin mehr zu schreiben; ich schlüße also mit nochmaliger | Versicherung daß ich Lebenslang seyn will

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gingen mir die Augen auf: Soll ich sagen, zu meinem Glücke, oder zu meinem Unglücke? die künfftige Zeit wird es entscheiden. Ich lernte einsehen, die Bücher würden mich wohl gelehrt, aber nimmermehr zu einem Menschen machen. Ich wagte mich von meiner Stube unter meines gleichen. Guter Gott! was vor eine Ungleichheit wurde ich zwischen mir und andern gewahr. Eine bäuersche Schichternheit, ein verwilderter und ungebauter Körper, eine gänzliche Unwißenheit in Sitten und Umgange, verhaßte Minen, aus welchen jederman seine Verachtung zu lesen glaubte, das waren die guten Eigenschafften, die mir, bey meiner eignen Beurtheilung, übrig blieben. Ich empfand eine Echahm, die ich niemals empfunden hatte. Und die Würkung der selben war der feste Entschluß, mich hierinne zu beßern, es koste was es wolle. Sie wißen selbst wie ich es anfing. Ich lernte tanzen, fechten, voltigiren. Ich will in diesem Bricfe meine Fehler aufrichtig bekennen, ich kan auch also das gute von mir sagen. Ich kam in diesen Uebungen so weit, daß mich diejenigen selbst, die mir in voraus alle Geschidlichkeit darinnen absprechen wollten, einigermaßen bewunderten. Dieser gute Anfang ermunterte mich hefftig. Mein Körper war ein wenig geschickter geworden, und ich suchte Gesellschaft, um nun auch leben zu lernen. Ich legte die ernsthafften Bücher eine zeitlang auf die Seite, um mich in denjenigen umzusehn die weit angenehmer, und vielleicht eben so nüzlich sind. Die Comoedien kamen mir zur erst in die Hand. Es mag unglaublich vorkommen, wem es will, mir haben sie sehr große Dienste gethan. Ich lernte daraus eine artige und gezwungne, eine grobe und natürliche Aufführung unterscheiden. Ich lernte wahre und falsche Tugen: den daraus kennen, und die Laster eben so sehr wegen ihres lächerlichen als wegen ihrer Schändlichkeit fliehen. Habe ich aber alles dieses nur in eine schwache Ausübung gebracht, so hat es gewiß mehr an andern Umständen als an meinem Willen gefehlt. Doch bald hätte ich den vornehmsten Nußen den die Lustspiele bey mir gehabt haben, vergeßen. Ich lernte mich selbst kennen, und seit der Zeit habe ich gewiß

Ich würde nicht so lange angestanden haben, an Sie zu schreiben, wenn ich Ihnen was angenehmes zu schreiben gehabt hätte. Klagen aber und Bitten zu lesen, müßen Sie eben schon so satt seyn, als ich bin sie vorzutragen. Glau ben Sie auch nur nicht, daß Sie das geringste davon in❘ diesen Zeilen finden werden. Ich besorge nur, daß ich bey Jhnen in dem Verdachte einer allzugeringen Liebe und Hochachtung, die ich Ihnen schuldig bin, stehe. Ich besorge nur, daß Sie glauben werden, meine jezige Aufführung komme aus lauter Ungehorsam und Boßheit. Diese Besorgniß macht mich unruhig. Und wenn sie gegründet seyn | über niemanden mehr gelacht und gespottet als über mich sollte, so würde mich es desto ärger schmerzen, je unschul-❘ diger ich mich weiß. Erlauben Sie mir derohalben, daß ich nur mit wenig Zügen, ihnen meinen Lebenslauff auf Universitäten abmahlen darff, ich bin gewiß versichert, Sie werden alsdann mein jeziges Verfahren gütiger beurtheilen. Ich komme jung von Schulen, in der gewißen Ueberzeu gung, daß mein ganzes Glück in den Büchern bestehe. Ich komme nach Leipzig, an einen Ort, wo man die ganze Welt in kleinen sehen kan. Ich lebte die ersten Monate so eingezogen, als ich in Meisen nicht gelebt hatte. Stets bey den Büchern, nur mit mir selbst beschäfftigt, dachte ich eben so selten an die übrigen Menschen, als vielleicht an Gott. Dieses Geständniß kömmt mir etwas sauer an, und mein einziger Trost dabey ist, daß mich nichts schlimmers als der

selbst. Doch ich weiß nicht was mich damals vor eine Thorheit überfiel, daß ich auf den Entschlußz kam, selbst Tomoedien zu machen. Ich wagte es, und als sie aufgeführt wurden, wollte man mich versichern, daß ich nicht unglüd: lich darinne wäre. Man darf mich nur in einer Sache loben, wenn man haben will, daß ich sie mit mehrern Ernste treiben soll. Ich sann dahero Tag und Nacht, wie ich in einer Sache eine Stärke zeigen möchte, in der, wie ich glaubte, sich noch kein Deutscher allzusehr hervorgethan hatte. Aber plözlich ward ich in meinen Bemühungen, durch Dero Befehl nach Hause zu kommen, gestöhret. Was daselbst vorgegangen, können sie selbst noch allzuwohl wißen, als daß Ich Ihnen durch eine unnüße Wiederhohlung verdrüßlich falle. Man legte mir sonderlich die

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