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1) Heute deiner zu gedenken,
Deren grab die nacht betaut,
Nahen wir mit weihgeschenken
Und gedämpftem klagelaut!
Warum war dir's nicht gegeben,
Mutig deinen tag zu leben?
Heil dir, königin der nacht,
Die dein mägdlein umgebracht!
2) Braune, schwermutvolle augen,
Öffnet euch ein letztes mal!

Lasst aus euren tiefen saugen

Mich noch einen süssen strahl!
O wie hatt' ich euch so gerne,
Traute, träumerische sterne !
Heil dir, etc.

3) Wie das schüttern zarter saiten
Schlichen sich in jedes herz

Deine stillen lieblichkeiten,
Deiner züge leiser schmerz!

Feuchte waldesschatten lagen
Über dir in lenzestagen

Heil dir, etc.

4) Wie ein reh dem wald entronnen,
Das ein üppig thal entdeckt,
Nahtest schüchtern du dem bronnen,
Flohst,) vom eignen bild erschreckt!
Ängstlich, wo sich wege teilen,

Seh' ich zweifeln dich und weilen.
Heil dir, etc.

5) Zeigte jung ein arger spiegel
Dir den wurm in jeder frucht?
Schwebte nahen todes flügel
Über dir mit eifersucht?

Nie hat dich ein arm umschlossen,
Liebe hast du nie genossen,
Heil dir, etc.

6) Willig stiegest du die stufen

Nieder in dein frühes grab.

Wandtest dich, von uns gerufen.

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Der inhalt hat sich verschoben; und verse, die vorher die ihnen günstigste stellung noch nicht inne hatten, sind wie bausteine. hin und her gerückt; vor allem mussten die strophen um jene zwei dem kehrreim einzuräumenden zeilen gekürzt und früher breit und unklar gehaltene partien verdichtet werden.

Ein teil der älteren 4. strophe geht in die neue erste über. Den »augen«<, die früher gleich in der ersten miterwähnt wurden, ist jetzt die ganze zweite gewidmet; die alte zweite strophe wurde zur neuen vierten, die dritte blieb, allerdings mit zarten abweichungen, bestehen. Statt des »klanges<< der saiten jetzt ein feineres geräusch, nur ein »schüttern<<; »das frohgefühl« und die »rosen<< verschwinden, und nur die »feuchten waldesschatten<< bleiben übrig.

1) Gedichte 2, 170: Bebst, vom eignen bild erschreckt!

Die 5. strophe erhält dagegen einen neuen stärkeren ton: »>Liebe hast du nie genossen«<, und die 6. wird durch die beugung des mädchenhauptes >>>Wandtest dich<< viel rührender gestaltet.

Der an Shakespeare gelehnte refrain fiel aber in der dritten. fassung (gedichte 2, 169) wieder fort; die zwei letzten zeilen jeder strophe wurden dafür nun als chor abgetrennt, der, wie auf der antiken bühne, den vorsprecher mit wechselnden und beziehungsreichen worten zu begleiten hat; nur hinter dem dritten solo klingt noch eine erinnerung an Shakespeare durch.

Während die zeilen 1-6 der strophen im übrigen sich also gleich blieben, trat jetzt am schluss jeder strophe, in der 7. und 8. zeile, ein neues reimpaar cin. Das lied wurde dadurch wesent

lich bereichert:

Heute déiner zu gedenken,

Deren grab die nacht betaut,
Nahen wir mit weihgeschenken
Und gedämpftem klagelaut!
Warum war dir's nicht gegeben,
Mutig deinen tag zu leben?

Chor:

str. 1. Warum schwand'st du vor dem ziel
Allerlieblichstes gespiel?

str. 2. Sanften schlummer, gute ruh!
Thu' die augen wieder zu..

str. 3. Schwermut, königin der nacht,
Hat ihr mägdlein umgebracht!

str. 4. Ohne glauben an das glück

Flohst in's dunkel du zurück.

str. 5. In der Selg'en keuschen hain
Tratest unvermählt du ein.

str. 6. Liessest du das süsse licht,

Doch vergessen bist du nicht.

Die worte des Claudio, die das lied auf seiner zweiten station beherrschten, sind gleichsam durchgeglitten und nur noch in einer seiner maschen hängen geblieben.

Der erste entwurf, um zusammenzufassen, wusste gar nichts von der Shakespeare'schen totenhymne, an die sich dagegen der zweite lehnte, indem er eintönig die englischen verse am schluss jeder strophe wiederholte; zuletzt aber, in einer dritten fassung, legt das gedicht die fremde stütze fast ganz wieder ab, und das zitat, das vorher etwas eigenmächtig, wenn nicht geradezu umgekehrt verwandt war, wird jetzt am ende der 3. strophe vollends verändert. Die »>Königin Diana«, die bei Shakespeare dem Claudio, der sich für Hermionen's mörder hielt, vergeben sollte, war bei dem Schweizer anfangs unklar dafür gepriesen worden, dass sie das mädchen, die frühverblichene heldin des gedichtes, zu sich genommen hatte; nun tritt an die stelle dieser göttin als »Königin der nacht«< eine andere, dunkle, wunderbare gestalt, die »Schwermut<< ein, die das ernste kind, das ihr längst gehörte, mit grösserem recht für sich einfordern kann. Heinrich Kraeger.

Berlin, Januar 1900.

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NACHTRAG ZU Engl. stud. XXVII 163 ff.

Zu den schülern Kölbing's, die sich später der akademischen laufbahn zugewendet haben, gehören ausser den auf s. 170 genannten, wie mir inzwischen bekannt geworden ist, auch noch die germanisten prof. H. Möller in Kopenhagen und prof. P. Pietsch in Greifswald (z. z. in Berlin) und auf dem gebiete der englischen philologie der nachfolger des verstorbenen auf dem Breslauer lehrstuhle, prof. G. Sarrazin.

Zu der entwicklung der Englischen studien möchte ich namentlich mit bezug auf eine äusserung Kölbing's in seinem briefe an Schipper, s. 177 noch nachtragen, dass herr oberlehrer dr. H. Klinghardt zu Reichenbach in Schlesien, jetzt prof. am kgl. gymnasium zu Rendsburg, die redaktion des pädagogischen teiles von band X und XI der Englischen studien selbständig geleitet hat. Infolge von überhäufung mit andern wissenschaftlichen arbeiten musste er zwar mit band XI die mitredaktion niederlegen, hat aber Kölbing, mit dem ihn eine sich immer enger schliessende freundschaft verband, auch weiterhin in der leitung des pädagogischen teiles durch seinen sachverständigen rat und seine beihilfe wesentlich unterstützt. Königsberg i. Pr., Juni 1900. Max Kaluza.

NACHTRAG UND BERICHTIGUNG ZUR BIBLIOGRAPHIE VON KÖLBING'S SCHRIFTEN (Engl. stud. 27, 194 ff.).

Herr prof. Koschwitz war so freundlich, herrn prof. Kaluza auf folgende schrift Kölbing's aufmerksam zu machen, die mir entgangen war: Geiplur and Geipa - Táttur in Koschwitz, Sechs bearbeitungen des altfranzösischen gedichtes von Karls des Grossen reise nach Jerusalem und Constantinopel. bronn, gebr. Henninger, 1879, s. 134-184.

lesen.

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Heil

Im Verzeichnis" ist unter dem jahre 1899 z. 3 Jonson st. Johnson zu
H. Jantzen.

BISHERIGE ERGEBNISSE UND WEITERE AUF

GABEN DER GOWER-FORSCHUNG.

Der folgende aufsatz enthält in veränderter gestalt einen vortrag, den ich über den »Gegenwärtigen stand der Gowerforschung und eine kritische neuausgabe der Confessio Amantis << in der neuphilologischen sektion des Bremer philologentages im September 1899 gehalten habe. Obwohl der bericht der verhandlungen darüber bereits kurz orientiert, schien es mir aus mehrfachen gründen zweckmässig, meine ausführungen in geeigneter form zu veröffentlichen. Ich möchte wenigstens éinen davon hervorheben sollen die vielen an die Gowerforschung sich knüpfenden probleme einer erfolgreicheren lösung als bisher entgegengeführt werden, und soll eine neuausgabe der Confessio Amantis den heutigen anforderungen der wissenschaft gerecht werden, so muss die ganze arbeit in einer, ich möchte sagen, monumentalen art angefasst und durchgeführt werden. Wie das gemeint ist, wird man aus meinen darlegungen entnehmen können. Weil ich nun mit den ersten endgültigen ergebnissen meiner Gower-studien erst nach verlauf mehrerer jahre hervortreten kann, scheint es mir nicht unangebracht, schon jetzt einige mitteilungen zu machen, zumal da auch auf diese weise eventuell ein meinungsaustausch mit solchen, die über die einzuschlagenden wege andrer meinung sein sollten, zum nutzen der sache herbeigeführt werden könnte.

Gegenüber dem eifer, mit dem sich die wissenschaftliche forschung seit dem aufblühen der anglistik der sprachlichen und litterarhistorischen würdigung Chaucer's gewidmet hat, ist sein zeitgenosse und freund John Gower bisher nur recht J. Hoops, Englische studien. 28. 2.

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stiefmütterlich bedacht worden. Die gründe liegen teils in der alle zeitgenossen weit überragenden bedeutung Chaucer's für sprache und litteratur Altenglands, dem sich darum die wissenschaft als einem lieblingskinde mit besonderer vorliebe zuwandte, teils aber auch in den grossen schwierigkeiten, die mit der kritischen herausgabe einer so umfangreichen und in so zahlreichen handschriften erhaltenen dichtung, wozu bei der Confessio Amantis noch die thatsache mehrerer versionen und redaktionen kommt, naturgemäss verbunden sind. John Gower verdient aber diese zurücksetzung um so weniger, als wir es bei ihm mit einem dichter zu thun haben, der sich trotz seiner meist nüchternen und trocknen darstellungsweise jahrhundertelang einer geradezu auffallenden beliebtheit in England erfreute, und dessen werke, insbesondere sein grosses englisches, sich als eine reiche fundgrube für den sprachforscher sowohl wie für den litterarhistoriker erweisen werden, sobald ihnen die wege durch eine streng kritische ausgabe geebnet sind.

Wie uns die grosse handschriftliche überlieferung (43 hss.) der Conf. Am. beweist, lasen Gower's zeitgenossen mit grossem interesse die überallher zusammengetragenen, teilweise pikanten geschichten, die in leicht und glatt dahinfliessenden versen zu einer art rahmenerzählung mehr oder weniger lose zusammengefügt waren, und ihre nachkommen bewahrten die vorliebe für dieses geschichtenbuch; denn alsbald nach einführung der buchdruckerkunst in England kam der eifrige Caxton dem lesebedürfnis einer viel jüngeren generation nach und besorgte den am 2. September 1483 beendeten ersten druck der Conf. Am. Etwa ein halbes jahrhundert später, 1532, folgte ihm der drucker Thomas Berthelette mit einer abermaligen, in der orthographie den veränderten verhältnissen angepassten, ausgabe nach. Der buchhändlerische erfolg muss recht ermutigend gewesen sein, denn 1554 lässt derselbe drucker eine zweite, wiederum modernisierte, ausgabe erscheinen. Dass ein vereinzelt1) erwähnter dritter druck Berthelette's vom jahre 1544

1) Edward Blore, The monumental remains of noble and eminent persons comprising the sepulcral antiquities of Great Britain etc., London 1826; Chalmers' English Poets. Vol. II intr. London 1810; Robert Watt, Bibliotheca Britannica, Edinburgh 1824.

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