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starken versuchungen, denen das mannesalter ausgesetzt ist. Sämtliche charaktere sind meisterhaft gezeichnet, darunter solche gegensätze wie der gefühlvolle dorfdichter hr. Widrington und die herbe wohlbeleibte verkörperung der philisterei frau Poynder. Es ist ein buch, das man mit steigendem interesse vom anfang bis zum schluss und sogar mehrmals lesen kann.

Walter Besant's The Orange Girl spielt zu London in der zweiten hälfte des achtzehnten jahrhunderts und gibt einige interessante, aber grauenhafte beschreibungen der damals in der britischen hauptstadt herrschenden zustände namentlich unter den niedrigen und verbrecherischen volksklassen, von deren thun und treiben ein treues und anschauliches bild entworfen wird. Man wird mit dem peinlichen gerichtsverfahren, dem gefängniswesen und ähnlichen dingen bekannt, die der nation wahrlich nicht zur ehre gereichten, und man wundert sich, dass leute, die nie müde werden, von ihrer christlichen kultur und menschenliebe zu reden, und mit ihrem gerechtigkeitssinn förmlich prahlen, solche greuel im zeitalter der aufklärung und des humanitarismus so lange dulden konnten. Das pomeranzenmädchen ist die schöne, unschuldige und hochherzige tochter eines strassenräubers, der seine laufbahn am galgen endet, und der wirtin einer als diebshöhle berüchtigten schnapsschänke. Sie verbringt ihr kindheit in diesem von dem gesindel der hintergässchen und den schlimmsten spitzbuben besuchten orte, ohne ihre sittenreinheit und edle gesinnung im geringsten zu beeinträchtigen. Zuerst verkauft sie pomeranzen vor dem eingang zum theater; später tritt sie als schauspielerin mit grossem erfolg auf der bühne auf, bleibt aber in ihrem lebenswandel ebenso bezaubernd wie tugendhaft. Ein reicher junger herr von hohem adel, der ihre geistesanmut und -grösse zu schätzen weiss, bewirbt sich um sie und beharrt auf seinem heiratsantrag auch, nachdem sie ihn über ihre herkunft und verwandtschaft genau unterrichtet hat. Sie ist auch in ihn verliebt, aber weigert sich, seine gattin zu werden, weil seine schwester sie flehentlich bittet, eine alte und vornehme familie nicht durch einen so unpassenden ehebund zu betrüben und zu verunehren. Obwohl die vom aristokratischen hochmut eingegebene einwendung eigentlich eine grobe beleidigung war, entsagt sie mit würdevoller selbsverleugnung dem ihr angebotenen glück, und um die entscheidung unwiderruflich zu machen, vermählt sie sich mit einem scheinheiligen schurken, von dem sie

sich trennt, sobald sie seinen wahren charakter erkennt. Um ihre mutter vor der gerichtlichen belangung wegen hehlerei zu retten, nimmt sie die schuld auf sich und wird zum tode verurteilt. Diese strafe wird in die verbannung nach den amerikanischen kolonien verwandelt, und sie kommt nach Virginien, wo, dank der vermittelung und fürsorge einflussreicher und vermögender freunde, sie nicht als sträfling, sondern als die herrin eines grossen landgutes lebt und stirbt. Der junge lord folgt ihr auf freiersfüssen nach, aber vergeblich; er überzeugt sich auch am ende, dass sie recht habe und sagt ihr in der herzlichsten weise lebewohl, indem er sie als „die edelste der frauen" preist. Die rührende und vielleicht in dieser hinsicht etwas überspannte erzählung ist trefflich in der anlage und ausführung und hat als eine lebendige darstellung der rohen brutalität und grausamen ungerechtigkeit der englischen kriminaljustiz des vorigen jahrhunderts einen hohen kulturgeschichtlichen wert.

Rupert of Hentzau bildet eine art nachtrag zu dem bekannten und allgemein beliebten roman The Prisoner of Zenda und gleicht ihm auch in der erfindung der situationen und in der entwickelung der einzelnen begebenheiten. Ein rascher, fast ungestümer lauf der ereignisse, edle ritterlichkeit, die gegen niederträchtigkeit und schelmerei absticht, und der endgültige sieg der unschuld, tugend und treue über die entgegengesetzten eigenschaften kennzeichnen beide prosadichtungen und werden in dem nur in der einbildung existierenden königreich ebenso anschaulich wie in der wirklichen welt zur darstellung gebracht.

Heutzutage hängt der buchhändlerische erfolg eines romans in hohem grade vom titel ab; darauf legen schriftsteller und verleger grosses gewicht und stecken die köpfe zusammen, um etwas ergreifendes, auffallendes, geheimnisvolles und nie dagewesenes zu ersinnen. Ob der titel dem inhalt entspricht, ist von geringerem belang; die hauptsache ist, dass er aufsehen erregt. In The ship of stars hat Quiller-Couch dieser albernen, aber einträglichen sucht keine grenzeu gesetzt und ist über alle vom vernünftigen und ästhetischen standpunkt aus inne zu haltenden schranken weit hinausgegangen. Ein in einem postwagen gegen Cornwall fahrender knabe hat zum mitreisenden einen matrosen, in dessen brusthaut das bild eines schiffes mit einem halbkreis von sieben sternen darüber tätowiert ist Später erleidet er schiffbruch und ertrinkt. Das ist alles. Mit der entwickelung der handlung und den zur

darstellung gebrachten begebenheiten und lebensverhältnissen hat der unsinnige titel nicht den geringsten zusammenhang. Die geschichte ist ein unkünstlerischer, verworrener mischmasch und spielt meistens in einem dorfe an der küste der grafschaft Cornwall, dessen bewohner mit ihrem aberglauben, gebräuchen und stark ausgeprägten eigentümlichkeiten wir gelegenheit haben kennen zu lernen. Die hauptcharaktere sind ein träumerischer junge, der im späteren leben nur sinn für das praktische hat, und ein mädchen mit gesundem menschenverstand, dessen geistesentwickelung die entgegengesetzte richtung nimmt. Die daraus entstehenden probleme wären nicht uninteressant, wenn man sie mit tieferer psychologischer einsicht behandelt hätte.

In der Little Novels of Italy betitlten und aus fünf kurzen erzählungen bestehenden sammlung von Maurice Hewlett fällt die merkwürdige und erfreuliche treue auf, mit welcher der dichter die verschiedenartigsten seiten des italienischen lebens schildert. Kein Italiener hätte die betreffenden verhältnisse sowie die eigentümlichkeiten des volkscharakters mit grösserer wahrheit und klarheit auffassen und zur anschauung bringen können. Die mannigfaltigen stoffe werden alle mit der gleichen tiefen sachkenntnis und künstlerischen meisterschaft behandelt. Die erste novelle, Madona of the Peach Tree, hat auch ein grösseres kulturhistorisches interesse, da sie von der art und weise, wie heiligenlegenden entstehen, sich unter dem volke verbreiten und von der kirche ausgenutzt werden, ein triftiges beispiel giebt.

Das geheimnis in A Roman Mystery schlägt in das gebiet der seelenkrankheitskunde ein. In der alten adeligen römischen familie der Montelupi vererbt sich ein keim des wahnsinnes, der sich fortentwickelt und gelegentlich zum ausbruch kommt. Zuweilen werden einige generationen verschont, aber die immer drohende gefahr verdüstert das dasein des sonst glücklichen geschlechtes, denn man weiss nicht, wer von der verhängnisvollen krankheit angegriffen und in einen wütenden lupomanaro verwandelt wird. Eine Engländerin, die einer vornehmen katholischen familie angehört, vermählt sich mit dem angeblich einzigen sohn und erben des vorerwähnten geschlechtes und entdeckt später, dass der älteste bruder ihres gemahls an dieser tollwut leidet und in einem ländlichen ahnenschloss eingesperrt lebt. Bei einem anfall dieser raserei sucht er sie umzubringen, tötet sich aber zur gleichen zeit. Italienische politik, die bestrebungen des Vatikans, die ver

lorene herrschaft wiederzugewinnen, und gegenkämpfe der liberalen partei nehmen einen hervorragenden platz in der erzählung ein. München. E. P. Evan s.

REALIEN UND LANDESKUNDE.

Herman Lewin, Zur englischen realienkunde. Beilage zum jahresbericht der realschule zu Biebrich, ostern 1899. 59 s. Biebrich, Guido Zeidler, 1899.

was

Der verfasser stellt in übersichtlicher weise zusammen, die schüler im anschluss an die englische lektüre oder die besprechung von tagesereignissen gelegentlich über englisches familienund gesellschaftsleben gehört haben. Die gegenstände, die hier. besprochen werden, sind das englische unterrichtswesen, das leben der wohlhabenden englischen familie in der stadt und auf dem lande, die verschiedenen spiele und vergnügungen, die politik und politischen versammlungen und die materielle stellung verschiedener stände, wie der geistlichen, professoren, rechtsanwälte, offiziere u. s. w. Die auskünfte, die der verfasser seinen schülern gibt, sind um so glaubwürdiger, als er ja das meiste nach eigener anschauung schildert. Er verfällt nirgends in den fehler der übertreibung, die in schilderungen fremder zustände und verhältnisse so häufig anzutreffen ist. So schreibt er z. b. über die sonntagsheiligung in England, von der auf dem kontinent die sonderbarsten begriffe im umlauf sind: »Die vorschriften für die sonntagsheiligung in England und in Deutschland nähern sich sehr durch abthun auf der ersteren und zuthun auf der letzteren seite; es wird nicht lange dauern, bis sie sich in der mitte begegnen (s. 31). Eigentümlich nehmen sich nur bemerkungen aus, die nicht bloss für England, sondern für die ganze gebildete welt giltig sind; z. b. >> Der zucker wird der schale immer mit der zange entnommen« (s. 20), oder »Gesellschaftlich gleichstehende herren grüssen sich untereinander durch berühren des hutes mit der hand oder durch winken mit der hand; der untergebene grüsst den höhergestellten durch unaufdringliches abnehmen des hutes« (s. 19).

Von der Victoria University wird erwähnt, dass sie in verschiedenen städten des königreichs ihre sitze habe (s. 6). Es hätte doch genauer gesagt werden sollen, dass sie aus dem Owen's College in Manchester, dem University College in Liverpool und dem York

shire College in Leeds besteht. Die frauen auf dem kontinent haben jetzt dieselbe freiheit in bezug auf die wahl ihres berufes wie ihre englischen kolleginnen, da ihnen ja, ebenso wie diesen, sogar die hochschulen offen stehen.

Die arbeit ist als ein wertvoller beitrag zur kenntnis des fremden volkstums zu betrachten und den fachkollegen bestens zur benützung zu empfehlen.

Wien, Februar 1900.

J. Ellinger.

R. Kron, The Little Londoner. Englische realien in modernem Englisch mit hervorhebung der Londoner verhältnisse. Zweite verbesserte auflage. Karlsruhe. J. Bielefeld's verlag. 1899. 196 ss. kl. 8. Pr. 2 mk. 40 pf.

Die thatsache, dass Kron's Little Londoner in zwei jahren schon eine zweite auflage erlebt hat, spricht genügend für die brauchbarkeit und gediegenheit des werkchens. Es ist in der that mit ausserordentlichem geschick angelegt und ebenso reichhaltig, wie lebendig und interessant. Die sprache ist fehlerlos und durchaus idiomatisch. Ich habe das buch schon mit vielem vergnügen im unterrichte verwandt. Meines wissens ist es übrigens nicht richtig, dass die Engländer bei dem lunch meist wasser trinken (p. 16), und dass es nur ein deutsches wirtshaus in London giebt (p. 39).

Berlin, Jan. 1900.

Ph. Aronstein.

Der socialismus in England geschildert von englischen socialisten. Herausgeg. von Sidney Webb. Deutsche originalausgabe von Hans Kurella. Göttingen, Vanderhoeck & Ruprecht, 1898. XIV + 326 ss. Pr. 5 mk., geb. 5 mk. 60 pf.

Die litteratur, soweit sie wirklich lebenswahr und lebendig ist, ist das spiegelbild und der widerschein des realen lebens, welches ihr stoff und richtung giebt. So ist die litteratur unserer zeit durchdrungen von dem socialen geiste unserer epoche, und es ist unmög lich, jene wirklich zu verstehen, ohne mit diesem enge fühlung zu haben. Dies gilt besonders auch von der englischen litteratur, die sich von jeher durch ihren wirklichkeitssinn ausgezeichnet hat. Der

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